15 Mai 2024 Wie schlecht geht es der Welt wirklich?
Es gibt Missverständnisse über Armut, Bildung, Lebensstandards etc. und das daraus resultierende Weltbild ist oft falsch bezüglich der globalen Armuts- und Wohlstandsverhältnisse und Zustände. Das Buch „Factfulness“ (2018) von Anna Rosling Rönnlund, Hans Rosling und Ola Rosling und deren Internetseite Gapminder.org sind interessante Quellen zum Erlernen eines neuen Blickwinkels, der globale Zusammenhänge realitätsnäher einordnet.
Im Deutschen ist das Buch unter dem Titel „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ (2019) erschienen. Im Original auf Englisch: „Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think“ (April 2018)
Der englische Untertitel des Buches „Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think“ repräsentiert die Herausforderung, die die Autor*innen an die Leser*innen stellen – nämlich bereit zu sein einen neuen Blickwinkel auf die Welt und ihre Zustände zu erlernen. Das Buch ist aus der Perspektive des schwedischen Arztes und Professors für Internationale Gesundheit Hans Rosling (1948–2017) geschrieben. Es ist kein rein wissenschaftlicher Text, für den man mit akademischem Schreibstil bekannt sein muss. Rosling erzählt quasi eine Geschichte: Davon, wie er als Mediziner und Professor von den veralteten Grundverständnissen seiner Studierenden, von Akademiker*innen aus der ganzen Welt, von Entscheidungsträger*innen, Politiker*innen etc. über verschiedene (zusammenhängende) Zustände in der Welt zuerst erstaunt, dann frustriert und schließlich mit die Hilfe seines Sohnes Ola Rosling (geg. 1975, Statistiker) und seiner Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund (geb. 1975, Software-Designerin) motiviert war, diese Missverständnisse zu erforschen und anzugehen.
Durch vielfache Umfragen über Armut, Bildung, Lebensstandards hat Hans Rosling erkannt, dass Menschen generell viel schlechter über die Welt und ihre Entwicklung denken, als sie eigentlich laut den statistischen Daten der Weltbank, UNESCO, UNO und vielen internationalen Institutionen mehr ist.
Ein kleines Quiz aus dem Buch „Factfulness“
Frage 1: In allen einkommensschwachen Ländern der Welt, wie viele Mädchen beenden heute die Grundschulzeit?
A: 20 Prozent
B: 40 Prozent
C: 60 Prozent
Frage 2: In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt…
A: fast verdoppelt
B: ist mehr oder weniger gleich geblieben
C: hat sich fast halbiert
Weltweit haben 30-jährige Männer im Durchschnitt 10 Jahre lang die Schule besucht. Wie viele Jahre haben Frauen desselben Alters in der Schule verbracht?
A: 9 Jahre
B: 6 Jahre
C: 3 Jahre
(Die Antworten stehen ganz unten)
Bei diesen Fragen, von denen in dem Buch insgesamt 13 in der Einleitung gestellt werden, antwortet der Großteil inkorrekt. Hans Rosling meint, das liege an konkreten Fehlschlüssen und Missverständnissen über die Welt. Der Großteil der Menschen habe dadurch ein falsches Weltbild, bzw. ein überholtes. So zum Beispiel, wenn die Welt in „Entwicklungsländer“ und „entwickelte Länder“ eingeteilt wird. Stand 2018, als das Buch veröffentlicht wurde, lebten nur ca. 9 Prozent der Weltbevölkerung noch in extremer Armut. Der Großteil der Menschheit, ca. 75 %, lebt in relativer Mittelschicht (Weltbank, 2024). Zu diesem Schluss kann der Autor kommen, da er eine neue, nicht binäre sondern vierstufige Einteilung der Welt bzw. der Einkommen vorschlägt. Die vier Levels an Einkommen teilen sich auf wie folgt:
- Level 1 hat bis zu 1$ pro Haushalt pro Tag.
- Level 2 hat 2 bis 8 $ pro Haushalt pro Tag.
- Level 3 hat 8 bis 32 $ pro Haushalt pro Tag.
- Level 4 hat mehr als 32 $ pro Haushalt pro Tag.
Nicht falsch verstehen
Die Menschen auf dem Einkommenslevel 2 leben immer noch in Armut, aber nicht mehr in extremer Armut. Und Hans Rosling erklärt anschaulich, was für einen Unterschied es macht, ob man 1 $ oder 4 $ am Tag hat. Anstatt ohne Schuhe zu Fuß mit einem Plastikkanister zur nächsten Wasserstelle zu laufen (Level 1), kann man mit Schuhen und einem Fahrrad schneller und mehr Wasser transportieren (Level 2). Dafür hat man mehr Zeit Geld zu verdienen und das Einkommen des Haushalts zu erhöhen.
Die Autor*innen ordnen diese Einteilung aber auch durch diverse Grafiken ein, indem sie erklären, dass der Aufstieg vom niedrigsten Einkommenslevel zum höchsten über mehrere Generationen verläuft. Aber die Daten zeigen es, im Laufe der letzten 80 Jahre ist ein Großteil der Länder auf der Welt in Einkommen, Wohlstand und Wohlergehen „aufgestiegen“.
Lernen einzuordnen
Das Buch ist eine Einladung und ein Werkzeug zu lernen, die Fakten über die Zustände der Welt besser einzuordnen. Ich denke, als generell links-orientierte Person, dass die Lektüre dieses Buches dazu beitragen kann, einen erweiterten Blickwinkel kennenzulernen und daraus progressive Schlüsse zu ziehen. Gleichzeitig kann dies helfen, konservativer und/oder neoliberaler Politik und Meinungsmache entgegenzutreten. Beispielweise ist das Bild immer noch weit verbreitet, dass es arme, entwicklungsschwache Länder und „uns“, die reichen, entwickelten Länder gibt. Dabei werden Binaritäten aufgestellt: globaler Süden/globaler Norden, der Westen/der Rest der Welt, die entwickelten/die nicht-entwickelten Länder.
Diese Weltbilder nutzen Populist*innen aus, um ihre Politik voranzutreiben: Die Machthabenden/reiche Menschen und Kooperationen profitieren davon, wenn dieser Blickwinkel gleich bleibt (also dass geglaubt wir, dass es viele in Armut lebende Menschen gibt) und sich nicht verändert. Dann kann man nämlich Ängste schüren, davor, dass einem der Wohlstand nicht gegönnt wird und dass man etwas weggenommen bekommt, wenn diese „anderen“ Menschen in die wohlständigeren Länder kommen würden. Diese Angst vor Macht- und Wohlsstandsverlust in der europäischen oder nordamerikanischen Bevölkerung wird dann instrumentalisiert, um konservative, unsoziale oder gar xenophobe Politik zu rechtfertigen. Zum Nachteil der Armen und Benachteiligten, die von einer Aufklärung des Weltbildes profitieren würden, sichern sich diese politischen Kräfte ihren Machtanspruch. Wenn veraltete Weltbilder genutzt werden, um rückschrittliche Politik zu machen, dann bleiben Ungleichheiten bestehen und die Menschen im Globalen Süden werden weiter in ihrer unterdrückten Position gehalten.
Alles gut? Dann müssen wir ja nichts machen
Aber Achtung, die Daten und Ausführungen von Hans Rosling darüber, dass es der Welt eigentlich besser geht, können auch von neoliberalen Gruppen ausgenutzt werden. Oberflächlich kann gesagt werden, dass es ja schon vielen Menschen auf der Welt in den letzten Jahrzehnten besser gegangen ist, dass der Wohlstand gestiegen ist, weil sich diese Länder dem Weltmarkt geöffnet hätten, wirtschaftliche Barrieren gesenkt wurden und diese Länder sich dem kapitalistischen Standard angepasst hätten. Und dadurch wäre auch der Wohlstand gestiegen. Aber es ist bewiesen, erst kommt das Soziale, wie Bildung für Mädchen oder Schutz vor Naturkatastrophen, dann der wirtschaftliche Aufschwung. Diese Punkte sind einfach und gut veranschaulicht in dem TED Talk von Hans und Ola Rosling von 2014 erklärt.
Zum spaßigen Teil: Gapminder.org als lockerer Einstieg in das Thema Factfulness
Auf der Internetseite Gapminder.org gibt es aktualisierte Fragen zu verschiedenen Themen, die das Wissen der Nutzer*innen abfragen. Bei einer falschen Antwort über eine Einschätzung, wie zum Stand der Dinge von z. B. Suizidraten, zur Nutzung von fossilen Brennstoffen oder zu globalen Impfraten, gibt es immer eine Berichtigung und auch eine ausführliche Erklärung, warum der Großteil der Menschen diese Fragen falsch beantwortet und woher die Missverständnisse kommen. Vor allem sind die aktualisierten Daten und Fragen im Kontext (jetzt nach) der Corona-Pandemie interessant. Das Buch kam zuerst 2018 heraus – aber wie sind die Daten von vor der Pandemie heute einzuordnen und wie haben sie sich verändert? Die Fragen und ihre Antworten auf der Internetseite sind jetzt auf die Zeit vor, während und nach der Pandemie angepasst. Das hilft bei der Erlernung eines erweiterten Blickwinkels heute.
Des Weiteren gibt es die 10 Faustregeln von Facfulness zum besseren Einschätzen der globalen Verhältnisse nochmal kürzer erklärt, für die Menschen, die keine Lust haben, das ganze Buch zu lesen. Diese Fausregeln basieren auf 10 Instinkten, die hauptsächlich das Dramatische in Wissen heruasfiltern unf hervorheben. Dagegen helfen diese 10 Regeln:
Weiteres Interessantes:
Passend zu der „Sustainable Development Misconception Study 2020“ von Gapminder und deren UN Goals Common Misconceptions Quiz sind unsere Blogbeiträge zum Thema der Ziele für Nachhaltige Entwicklung. Hier geht’s zu Teil 1 „Sustainable Development Goals – Was ist das eigentlich?“ und zu Teil 2 „Halbzeit der Agenda 2030: Können wir die SDGs noch erreichen?“.
Ebenfalls sehr interessant zum Sich-Durchklicken ist die Dollar-Street. Das Online-Tool, gedacht und designt von Anna Rosling Rönnlund, veranschaulicht, woher die Daten für die Aussagen von „Factfulness“ und Gapmider.org kommen. Entlang einer Straße stehen Häuser, die, je weiter man geht, mehr Einkommen haben. Zu jedem Haushalt gibt es einen bebilderten Steckbrief. Daran kann man die Unterschiede zwischen den Einkommen-Levels von Hans Rosling erkennen.
Quellen:
Rosling, Hans und Ola Rosling und Anna Rosling Rönnlund (2018): Facfulness. Ten reasons we’re worng about the world – ans why things are btter than you think. London: Sceptre.
https://www.gapminder.org/ignorance/studies/sdg2020
https://www.worldbank.org/en/country/mic/overview
https://www.aufwiderstand.at/hans-rosling-der-darling-der-neoliberalen
Beitragsbild: FREE TO USE! CC-BY GAPMINDER.ORG
Antworten vom Quiz: 1: C, 2: C, 3: A
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