19 Nov 2019 Das ist kein Tagebucheintrag!!! Ein CARE-Gewinnertext. Von Anneke Maurer
Liebe Freund*innen guter Literatur, passend zur besinnlichen Vorweihnachtszeit (na, schon Geschenke fertig?) haben wir heute was zum Lesen für euch. Und zwar einen der Gewinnertexte des CARE-Schreibwettbewerbs 2019. Autorin ist die (zum Zeitpunkt der Einreichung) 17-jährige Anneke Maurer. Viel Spaß beim Lesen! Aber Achtung: Besinnlich wird es nicht.
DAS IST KEIN TAGEBUCHEINTRAG!!!
Nur, damit das klar ist. Tagebuch ist was für Loser.
Ich schreibe das nur, weil es ja sonst nichts gibt, was ich tun kann. Und wegen der Nachwelt und so, als Quelle, die sie dann im Geschichtsunterricht analysieren können, in hundert Jahren. Wenn wir alle schon tot sind. Das vielleicht auch schon früher. Schon bald, wenn das so weitergeht.
Eigentlich habe ich ziemlich Angst. Mir ist kalt. Es ist dunkel.
Der Strom ist weg.
Nicht nur so für eine Stunde oder zwei. Seit vierzehn Tagen jetzt. Überall.
Am Anfang war es ja noch ganz lustig. Die Lehrer kamen nicht, die meisten Schüler auch nicht, keine Schule, kein Unterricht. Kann man sich Schlimmeres vorstellen.
Von den Verkehrsunfällen haben wir erst später durch Mundpropaganda gehört. Fernsehen funktioniert ja nicht. Ging ganz schnell: Ampeln aus, Massenkarambolage. Das war dann schon weniger lustig.
Vielleicht ist das ein Terroranschlag. Wenn, dann haben die das ziemlich genial eingefädelt, die Attentäter. Das Volk richtet sich selbst hin.
Es war Max’ Idee. Das mit den Läden: Saturn, Apple Store, da, wo es halt was zu holen gibt; dass da wohl auch der Strom weg ist, wenn auch sonst überall, also: keine Überwachungskameras, keine Sicherungen, keine Polizei, keine Beweise, nichts.
Aber wir waren nicht die Ersten mit dieser Idee. Das war schon ziemlich krass, der erste Tag und die Läden waren ausgeräumt.
Am schlimmsten war es mit den Supermärkten. Selbst die Tiefkühlsachen wurden mitgenommen, obwohl das doch Unsinn ist, denkt man. Du kannst die Tiefkühlpizza vergessen, wenn du keinen Ofen hast. Kau’ mal auf einer gefrosteten Erbse herum, dann weißt du, wie das ist. Dann weißt du auch, was man aus Hunger macht. Wir haben Schlimmeres gegessen als bloß aufgeweichte Tiefkühlerbsen. Da waren die mit der Pizza besser dran als die mit dem iPhone 9+.
Die Schwerverbrecher sind aus den Gefängnissen raus. Wenn es denn nur die Knastis wären. Diese Gelegenheit macht nämlich nicht nur Diebe, sondern auch Mörder aus solchen wie Sandra, wenn es sein muss, die nie auch nur einer Fliege was zuleide getan hätten. Wirklich jeder ist sich selbst der nächste. Erstaunlich, wie schnell die Werte zusammenbrechen, die über zweitausend Jahre unsere Gesellschaft getragen und abgeschliffen haben, hat Mama nach einer Woche gesagt, aber auch, dass wir nicht das Recht dazu hätten, darüber zu urteilen. Ich selbst habe Tinas Bobbie zu uns gelockt, damit Mama ihn schlachten konnte. Mir wird immer noch übel, wenn ich daran denke und ich habe eine Scheißangst, Tina über den Weg zu laufen. Ich weiß ja, wie sehr sie den Langhaar geliebt hat. Und verdammt, ja, ich habe darüber nachgedacht, was in drei, vier, lass’ es sieben Tage sein, sein wird, wenn überhaupt nichts mehr übrig ist.
Logisch, dass sich da keiner mehr so ohne weiteres auf die Straße traut.
Hat dein Haus Fenster, bist du nicht mehr sicher. Jetzt sitzen wir alle zusammen, im Keller, wie im Krieg. Nachbarn, Freunde, Feinde. Die Erwachsenen außen mit den Waffen, Fleischmesser, Scheren, Hämmer, Äxte. Ich sitze innen bei den Kindern, obwohl ich eigentlich schon groß genug bin, aber das sage ich lieber nicht. Drinnen ist es sicherer. Ich will kein Schisser sein, aber tot noch weniger.
Wir beschützen uns gegenseitig; wobei hier doch niemand dem anderen mehr traut. Zu gefährlich. Vertrauen, meine ich.
Keine Ahnung, ob das nur unser Land betrifft. Oder auch Europa. Oder die ganze Welt. Die Kommunikation nach außen funktioniert ja nicht. Mit dem Strom ist auch die Zivilisation verschwunden. Ganz klar: Die letzte Erbse kriegt der, der am stärksten ist und nicht zögert, zuzuschlagen.
Das Essen ist ein Problem. Die Dunkelheit. Die Kälte. Trinken wird auch knapp. Am schlimmsten ist die Ungewissheit.
Mama meinte auch: Wenn man mal überlegt, dass die Menschen im Mittelalter auch keinen Strom hatten und das kein Problem war für die, sollte man vielleicht mal die heutige Abhängigkeit in Frage stellen.
Jetzt spricht sie kaum noch, sie ist ganz blass und dürr, sie weigert sich, das meiste zu essen und schiebt es stattdessen Anna und mir zu.
Der Tod ist echt allgegenwärtig, du kannst das riechen, es stinkt. Wenn du allein die Tausenden aus den Krankenhäusern nimmst. Die Notstromaggregate halten doch auch nur ein paar Tage, höchstens.
Das sind die längsten zwei Wochen meines Lebens. YouTube oder Video Gaming kommen mir unendlich weit entfernt vor. Ich schwöre, ich werde mich nie wieder über Schule beschweren. Oh Mann, ich hätte mir nie erträumen können, dass ich mich mal nach Herrn Schröders übelst langweiligem Geounterricht sehnen würde. Oder, dass ich freiwillig Tagebuch schreibe. Ich meine: Tagebuch! Scheiß auf Quelle, das hier kann doch niemand lesen. Wie soll ich denn die Zeilen treffen, ist doch viel zu dunkel hier.
Vor fünfzehn Tagen wäre eine Woche ohne Handy für mich die Hölle gewesen. Jetzt sehne ich mich nur noch nach Licht und einem funktionierenden Radio.
Lange können wir nicht mehr leben ohne Strom.
Hier erfahrt ihr mehr über den aktuellen Schreibwettbewerb von CARE!
Beitragsbild: Photo by Rodion Kutsaev on Unsplash
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