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Der neue Junge. Eine Geschichte von Katharina Hopp

Wir sind glücklich, heute den Gewinnertext des diesjährigen CARE-Schreibwettbewerbs zum Thema Macht hier veröffentlichen zu dürfen.

Der neue Junge

Der neue Junge hat alte Narben. Sie scheinen älter zu sein als er selbst. Wulstige Haut wie Würmer durch das Gewebe gewunden.

Als er die noch nicht hatte, als die Haut noch so glatt und rein war wie sein Geist, als der Vater noch lebte, da hatte der Vater immer gesagt:

„Macht zerstört den Frieden.“ Der Junge war damals noch klein und er verstand die Bedeutung nicht. Jetzt hat er kapiert, dass Macht schlecht ist und Frieden gut.

Jetzt lebt er im Frieden. Das haben sie ihm versichert.

Er wird in die Schule geschickt. Dort sind andere Kinder. Laute, spielende, lachende Jungen und Mädchen.

Sie sprechen anders, als er es kennt und sie sehen auch heller aus und haben keine Narben. Er findet die helle Haut schön, sie sieht so fröhlich aus. An seinem ersten Tag in der Schule nehmen die Kinder seine Hände und biegen die Finger um ihre, dann machen sie einen Kreis und beginnen zu tanzen.

Sie heißen ihn willkommen, sagt die Lehrerin.

Er weiß nicht, was das bedeutet, das Herumhüpfen, und er schleicht nur hinterher, die Schultern zusammengezogen, den Kopf stetig geschützt, gesenkt.

 

Was das sei, die Macht, hatte er einmal den Vater gefragt. „Wenn du mächtig bist, bestimmst du alles, du machst alles kaputt, schmeißt Bomben. Nur Allah sollte Macht haben. Er weiß, wie man mit ihr umgeht.“

Ein paar Tage später sprengte die Macht den Vater in den Himmel.

Der Junge denkt viel über Macht nach. Im Unterricht redet er nicht. Er redet nie. Die Worte sind in Syrien beim Tod geblieben.

Wenn eine Tür zuknallt, dann wirft er sich auf den Boden. Das ist Reflex. In den Momenten auf dem staublosen Boden ist die Macht ganz greifbar. Dann befällt sie seinen zitternden Körper und schickt ihm Bilder in den Kopf.

Roter Staub, der in die Luft fliegt. Grelle Blitze, die überall stechen, nicht nur in den Augen. Da darf man nicht hineinsehen. Deswegen kneift er die Augen zu, wenn etwas Lautes passiert.

Ein Mädchen kauert sich dann neben ihn. Wartet, bis er die nassen Augen wieder aufschlägt, und lächelt. Lächeln ist gut. Das heißt, alles ist in Ordnung.

Er setzt sich wieder auf den Stuhl und die Ohren fangen Worte auf, die ihm vorkommen wie längst verklungene Explosionen, so unverständlich sind sie.

 

Die Menschen, bei denen er wohnt, sind sehr leise. Bei ihnen muss er sich selten auf den Boden fallen lassen. Er mag sie. Er mag die warmen Augen, warm wie die Decke, die um seine Schultern liegt, wenn er keinen Schlaf findet.

Oft drücken sie ihn an sich und murmeln Worte, die er zwar nicht ganz kennt, aber die er in die warme Ecke einordnet. In die Ecke, in der sein Vater auch wohnt.

Er sieht sie gern an, die Frau und den Mann, die mit ihm reden, als würde er antworten. Die zu verstehen scheinen, wenn sie in seine feuchten Augen sehen und für die er irgendwann sogar die Mundwinkel nach oben zieht. Dann biegen sich auch die Narben und sind schöne Kurven, nicht so grob und scharf. Er lacht eigentlich gern. Vielleicht, weil die anderen dann auch lächeln. Und vielleicht, weil dann seine Augen trocknen.

Der Mann und die Frau sagen, dass das die Macht der Liebe sei.

Wenn ihr mehr lesen wollt: Hier findet ihr den Gewinnertext des Jahres 2017 und hier könnt ihr direkt den Sammelband zum CARE-Schreibwettbewerb herunterladen. Hier gibt es alle Best of CARE-Schreibwettbewerb Hefte auf einen Blick. Und auch CARE affair, das Magazin von CARE, ist sehr sehr lesenswert!

Bald geht der Schreibwettbewerb in eine neue Runde – wir halten euch auf dem Laufenden!

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