Gewinnertext: Erkenntnis

„Schäm dich!“ – dies war das Motto des CARE-Schreibwettbewerbs 2016/17. Ganz unterschiedlich fielen dementsprechend die eingereichten Texte aus, und dieser Text von Mia Veigel gewann den ersten Platz in der Kategorie 14-18 Jahre . Also: Schnappt euch einen Kaffee oder Tee und macht mit uns einen kleinen literarischen Gedankenausflug…

Erkenntnis

von Mia Veigel
Langsam wird es hell. Der Himmel färbt sich von rotorange in ein helles Grauweiß. Die tief hängenden Wolken scheinen an den hohen Bergen zu lecken. Den Apus. Ich muss an meinen Großvater denken. Er sagte immer zu mir: „Hör mir gut zu, Moisés: Die großen Berge um uns herum, die Apus, beschützen uns. Sie sind größer und mächtiger als wir. Versuche niemals, dich über sie zu stellen.“ Ich blicke noch eine Weile auf die riesigen Gestalten, dann krieche ich aus meiner einfachen Schlafgelegenheit und laufe die eisigen Treppenstufen hinunter.

Ich zittere vor Kälte, doch das Quinua-Getränk meiner Großmutter wärmt mich von innen. Viel Zeit aber habe ich nicht. Meine Großmutter ist schon auf den Feldern und ich muss mich beeilen, ihr bei der Arbeit zu helfen.
Die Arbeit ist hart und schwer. Seit meine älteren Geschwister nicht mehr da sind, ist es noch mühsamer geworden. Sie sind in die Stadt gegangen, um Geld zu verdienen. „Und wie die meisten kommen sie nie wieder zurück … “, denke ich laut vor mich hin, als ich die Erde mit dem rostigen Spaten umgrabe und es erscheint ganz plötzlich blass das Bild meiner Mutter hinter meinen Lidern. Weshalb auch sollten sie zurückkommen? In das kalte endlose leere Hochland …
Es ist sehr einsam hier, oft haben wir kaum etwas zu essen und meine Großmutter weiß nicht, wie sie mein Schulgeld bezahlen soll. Schon seit einer Weile war ich nicht mehr in der Schule, dabei ist es mein größter Wunsch einmal Arzt zu werden. Bei diesem Gedanken, muss ich den plötzlichen Klos in meinem Hals hin unter schlucken. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf der Matratze in der Küche liegt. Er, der mich so vieles gelehrt hat. Er, der nicht gerettet werden konnte. Für meinen Großvater konnte kein Arzt gefunden, geschweige denn bezahlt werden.
Auf einmal höre ich ein lautes Zughorn. Auch meine Großmutter lässt ihren Spaten in der Erde stecken und blickt auf. Wir tauschen unsere Blicke aus und wissen beide, was das bedeutet. Sie kommen wieder. Seit ich klein bin, erfüllt mich ein Gefühl des Hasses, wenn dieser Zug unachtsam durch unser Land fährt. Und da sehe ich ihn auch schon blau und vor Reichtum glänzend in der Ferne leuchten. Schämt euch, denke ich mir. Schämt euch, durch unser Land zu fahren und zu glauben, etwas über uns zu wissen. Schämt euch, so viel mehr zu haben als wir. Schämt euch, uns das wenige, das wir haben, zu nehmen.

 

Schämt euch, für diese Zugfahrt mehr auszugeben, als meine Familie es in einem Jahr kann. Schämt euch, keinen Respekt vor der Natur und dem Mächtigeren zu haben. Schämt euch, verdammt nochmal. Plötzlich packt mich ein Gefühl der flammenden Wut. Es scheint in mir zu brodeln und droht mich zu zersprengen. Ich greife nach dem Stein zu meinen Füßen und schleudere ihn mit all meiner Kraft in Richtung des Zuges. Wie der Stein meine geballte Hand verlässt, verlässt auch mich jegliche Energie. Auf einen Schlag fühle ich mich unendlich leer.
Ich spüre die Tränen der Wut und Verzweiflung mein Gesicht hinunter rinnen. Wie sie sich ihren Weg bahnen über meine von der Sonne des Hochlandes verbrannten Wangen. Und sie fließen und fließen und finden kein Ende. Sie finden kein Ende, wie auch diese Ungerechtigkeit keines findet. Grüne bizarr geformte Berge und unendliche Weite ziehen an Teresa vorbei. Das Klappern des Zuges auf den Schienen begleitet sie auf ihrer Fahrt durch das tiefe Tal. Vorbei an Flüssen und Getreidefeldern, unfertigen Häusern und vereinzelt stehenden Kühen. Auf den Feldern arbeiten alte Frauen in bunten Kleidern mit großen Hüten auf den Köpfen. Sie steht zusammen mit den anderen am hinteren Wagon und blickt in die atemberaubende Landschaft und auf die Menschen, die ihr wie Figuren aus einem Bilderbuch erscheinen.
Teresa ist schon seit ein paar Wochen unterwegs. Immer wieder wechselnde Landschaften und neue Eindrücke erfüllen sie. Sie sind es, die sie das Alte und das sich immer Wiederholende vergessen lassen. Sie fühlt sich frei.

Das Klicken eines Fotoapparats lässt die junge Frau aus ihren Gedanken aufschrecken und sie bemerkt die vielen Mitreisenden, die sich um sie herum scharen, um den Dorfbewohnern euphorisch zuzuwinken. Es ist wie ein Spiel. Winkt einer dieser fremden und zugleich so faszinierenden Menschen zurück, so fühlt es sich wie ein kleiner Triumph an. Teresa ist nicht etwa von zu Hause abgehauen. Sie wollte Neues, ihr Unbekanntes entdecken. Sie wollte weit weg reisen, um später als Geschichtenerzählerin zurückzukehren. Sie schließt ihre Augen. Der Fahrtwind bläst durch ihr von der Sonne gebleichtes Haar. Die Strähnen kitzeln Teresa an Kinn und Stirn und flatternaufgeregt hin und her.

Als sie die Augen wieder öffnet, hat sich etwas verändert. Zunächst weiß sie nicht so recht, was der Grund für dieses Gefühl ist, das sich in ihrem ganzen Körper auszubreiten droht. Doch dann hört sie es die anderen Reisenden sagen: ,,Er hat einfach die Hose heruntergezogen! Und uns seinen nackten Hintern entgegengestreckt!“, ruft eine Frau erregt, was schallendes Gelächter auslöst. Auch Teresa muss sich ein Schmunzeln verkneifen. Doch als sie den Jungen weglaufen sieht, nimmt sie auch seine abwertende Geste mit der Hand wahr. Und da bemerkt sie zum ersten Mal die ernsten, ja geradezu feindseligen Blicke der Einheimischen. Eine alte Frau sitzt auf einer kaputten Holzbank zusammen mit einem kleinen Jungen. Als der Zug, der sich direkt durch das Dorf bahnt, an ihr vorbei holpert, zieht sie ruckartig mit ihrer flachen Hand über ihre Kehle. Teresa erschrickt und muss schlucken. ,,Sie wünscht mir den Tod“, flüstert sie betroffen. Ob alt oder jung, die Bewohner blicken sie mit hasserfüllten Gesichtern an.

 
Und da fällt es Teresa wie Schuppen von den Augen. Es ist kein Spiel. Und wenn es eines wäre, dann wäre es kein gerechtes. Ganz plötzlich und unvermittelt streifen sie zwei dunkle Augen. Sie verliert sich in ihnen und hat für eine Sekunde das Gefühl, bis auf den Grund der Seele des anderen zu blicken. Und sie spürt Wut. Spürt Hass. Spürt Verzweiflung. Der Stein prallt schallend neben ihr gegen das Metall des Zuges. Vor Schreck springt sie einen Schritt zurück, als Teresa jedoch das Gesicht des Jungen wieder erblickt, scheint die Welt für einen Moment stehen zu bleiben. Die Verzweiflung und Leere, die in seinem Gesicht stehen, treffen sie tief in ihrem Innern. Und das Gefühl, das sie schon die ganze Zeit einnimmt, bekommt ganz plötzlich einen Namen: Scham.

Euch hat die Kurzgeschichte von Mia ziemlich gut gefallen? Dann schaut doch mal auf ihrem Blog Missim vorbei, dort schreibt sie über ihre Reiseerlebnisse und Erfahrungen bei der Freiwilligenarbeit. Oder ihr greift einfach selbst zum Stift, und macht beim aktuellen CARE-Schreibwettbewerb mit…
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