13 Jun 2019 Was ab morgen deine Meinung ist
In der Mitte der Gesellschaft ist es ganz schön gemütlich. Der Platz auf dem Sofa ist auf der richtigen Stelle schon vorgewärmt, du brauchst dich nur noch hinzusetzen. Ungefähr so funktioniert es mit den etablierten Meinungen.
Während unseres Lebens hören, internalisieren und zitieren wir gern ein paar: Demokratie ist gut, Bildung sollte für alle Kinder da sein, Alkohol für 4-Jährige ist nicht so gut. Diese vermeintlich gefestigten Meinungen unterliegen jedoch einem ständigen Wandel. Was vor ein paar Jahrzehnten noch Konsens war, ist heute überholt. So sind beispielsweise im Gegensatz zum Anfang des 20. Jahrhunderts die meisten Menschen mittlerweile der Ansicht, dass auch Frauen vollwertige Menschen mit einem Recht auf Wahlen sind.
Das, was sich als etablierte Meinungen bezeichnen lässt, spielt sich nach der Theorie von Joseph P. Overton innerhalb des „Overton-Fensters“ ab. Außerhalb weht ein rauer Wind und Ideen werden als zu extrem abgestempelt. Wenn Forderungen nach einer Klimapolitik, die der Klimakrise gerecht wird, laut werden, werden diese zum Beispiel oft durch einen Abwehrmechanismus als zu radikal dargestellt. „Sind diese Vorschläge »realistisch«? Die Frage ist falsch gestellt,“ schreibt der Soziologe und Philosoph Michael Löwy. Er argumentiert, dass Forderungen natürlich nicht realistisch sind, das sollen sie auch nicht sein – zu stark divergieren sie mit den Missständen des bequemen Status Quo. Doch davon zu sprechen, dass etwas nicht realisierbar ist, ist paradoxerweise ein erster Schritt.
Utopien bleiben nur Utopien, solange man sie komplett aus dem Denken und Sprechen verbannt. Dies zeigt auch das Modell des „Overton-Fensters“. Außerhalb des Fensters gibt es verschiedene Abstufungen, die aussagen, wie akzeptiert eine Meinung ist. Die letzte Abstufung ist das Undenkbare: Ideen, die uns heute so radikal und absurd vorkommen, dass sie gar nicht erst in unserem Gedankenstottern vorkommen. Ist so eine undenkbare Idee erst mal geäußert, ist der erste Schritt getan: die Idee ist plötzlich ein Teil der Streitkultur. Nehmen wir das Wahlrecht ab der Geburt. Ausgehend von dieser Forderung sehen alle Bestrebungen, ein Wahlrecht ab 16 Jahren einzuführen, milde aus. Zudem muss man nicht unbedingt ein Wahlrecht ab 0 Jahren befürworten oder diese Meinung akzeptieren, es reicht aus, sie oft genug zu hören.
Allein dadurch, dass man sich an eine Meinung gewöhnt, wird das „Overton-Fenster“ in diese Richtung verschoben. Allerdings kann eine Diskursverschiebung auch nach rechts funktionieren.
Das spüren wir bereits in der politischen Realität, in der die AfD wieder NS-Vokabular ausgekramt hat. Wohin sich die salonfähigen Meinungen verschieben, hängt also auch immer vom Diskurs ab. Ein guter Grund, um Utopien laut(er als die AfD) zu denken.
Genau das wollen wir vom sai Magazin machen: Utopien laut denken. Unsere Artikel orientieren sich nicht nur daran, was ist, sondern was sein könnte.
sai ist ein Online-Magazin, das von einem Kollektiv junger Menschen zusammengepuzzelt wird. Diese jungen Menschen sind wir. sai ist ein Ort, an dem wir uns auf vielfältige Weise austoben können. Künstlerisch mit Illustrationen, Collagen, Fotografien. Literarisch mit Texten, Gedankenstottern oder Textcollagen. Journalistisch mit Interviews, Kommentaren, Reportagen, und so weiter. Alles dies sind Mittel, um unseren Senf zur Debatte hinzuzugeben.
Wir versuchen dabei den Spagat zwischen Kunst, Aktivismus und Journalismus. Zum Glück sind wir ziemlich gelenkig.
Wir arbeiten alle unentgeltlich und aus Leidenschaft. Wir finden aber, dass Arbeit bezahlt werden müsste. Deswegen richtet sich sai auch nicht an professionelle Redakteur*innen. Unser Anspruch ist es viel mehr, Menschen abzuholen, denen es in den Fingern kribbelt, sich auszuprobieren. Jede*r hat was zu sagen. Zudem bietet sai die Chance, einfach mal los zu recherchieren und dank unseres Vier-Augen-Prinzips immer einen Menschen an die Seite gestellt zu bekommen, die oder der die Arbeit noch einmal reflektiert und lektoriert. Willst du auch eine Stimme sein, die sonst ungehört bleiben würde?
Text: Leonie Ziem Bild: Lena Leitner
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