Transformative Gerechtigkeit – ein weltweit anwendbarer Ansatz zur kollektiven Konfliktbearbeitung?

Was bedeutet Gerechtigkeit eigentlich? Und was passiert mit den Menschen, die Unrecht getan haben? In unserem heutigen Justizsystem gibt es dafür meist eine eindeutige Antwort: Halten sich Menschen nicht an Gesetze und Regeln, werden sie bestraft, meist mit einer Freiheitsstrafe im Gefängnis. Was Recht und Unrecht ist, ist dabei in unseren Gesetzesbüchern festgehalten. Wer sorgt dafür, dass Recht und Ordnung eingehalten werden? Die Polizei. Doch was passiert, wenn die Polizei nicht auf unserer Seite steht? Wenn sie Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht oder sexuellen Orientierung unterschiedlich behandelt? Die Polizei macht zunehmend negative Schlagzeilen: Rechtsextreme Gruppenchats in der deutschen Polizei, willkürlich Gewalt gegen und Ermordung von People of Color in den USA, Misshandlungen und Vergewaltigungen in indischen Polizeiwachen. Das wirft die Frage auf: Gibt es keine Alternativen zum Polizeiapparat? Die Antwort lautet: Transformative Gerechtigkeit.

Was ist transformative Gerechtigkeit?

Transformative Gerechtigkeit (TG) ist aus einer Bewegung von Frauen, trans und nicht-binären People of Color in den USA entstanden. Dabei sind restaurative Praktiken von indigenen Communities weiterentwickelt worden, die Verbrechen als zwischenmenschliche Verletzungen verstehen, nicht als Verletzung des Gesetzes per se. Bei restaurativer Gerechtigkeit geht es vor allem darum, ein aus dem Gleichgewicht geratenes System wiederherzustellen.

Transformative Gerechtigkeit hingegen versucht nicht, das System wiederherzustellen, sondern eher zu einer grundlegenden Herstellung von Gerechtigkeit zu gelangen. Die Organisation „INCITE!“ hat vier Grundpfeiler von TG aufgestellt:

1. Die von Gewalt betroffenen Personen müssen selbstbestimmt und sicher am Gerechtigkeitsprozess teilnehmen können und dabei kollektive Unterstützung erfahren.
2. Die gewaltausübende Person muss Verantwortung übernehmen und das eigene Verhalten entsprechend anpassen oder ändern.
3. Die Gemeinschaft muss sich hin zu Werten und Praktiken entwickeln, die entschieden gegen Gewalt vorgehen und sie so vorbeugen.
4. Strukturelle Bedingungen, die Gewalt erst möglich machen, müssen transformiert werden.

Transformative Gerechtigkeit kann also als eine Art befreiender Ansatz verstanden werden, der sich entschieden von Bestrafung und staatlicher oder systemischer Gewalt distanziert und Sicherheit und Verantwortung in den Vordergrund stellt.

Wie soll transformative Gerechtigkeit Hilfe schaffen?

Die Idee von TG ist in erster Linie nicht, als alleiniges Gerechtigkeitsorgan dazustehen. Vielmehr geht es darum, von Gewalt betroffenen Personen alternative Handlungsoptionen aufzuzeigen, gerade wenn für diese die Polizei keine direkte Hilfe verspricht. So tritt an die Stelle der Polizei eher kollektive Verantwortungsübernahme und ein Versuch der Transformation der gewaltvollen Verhältnisse. Konkret kann dieses Modell vor allem bei Fällen von sexualisierter Gewalt Einsatz finden. Viele Betroffene scheuen sich, die Polizei zu informieren, auch weil das bloße Einsperren der gewaltausübenden Person keine Heilung schaffen kann. Dort möchte TG mit kollektiver Teilnahme beim Heilungsprozess unterstützen und die Strukturen, die zur Gewaltausübung geführt haben, verstehen und transformieren.

Wie realistisch ist transformative Gerechtigkeit?

Auf den ersten Blick mögen einem die Ansätze von TG radikal und utopistisch erscheinen: Ist dieses System wirklich in der Lage, in jedem Fall von Gewaltausübung den Polizeiapparat zu ersetzen? Die Antwort lautet wohl nein. Aber es ist ein alternativer Ansatz, der vor allem für Menschen gedacht ist, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder ihres Geschlechts Diskriminierung oder Gewalt vom Polizeiapparat fürchten.

Die Ansätze von TG machen außerdem deutlich, dass unser Rechtssystem Menschen zwar bestrafen kann, niemals aber die Strukturen, die zur Gewaltausübung geführt haben, nachhaltig verändert. Darum brauchen wir Konzepte wie transformative Gerechtigkeit, die Träume von einer Gemeinschaft ohne Gewalt mit ihrer heutigen Arbeit vielleicht eines Tages wahr werden lassen. Diese Prozesse sind durch den Ansatz von TG individuell anpassbar und können die unterschiedlichen weltweiten Lebensrealitäten berücksichtigen.

-Leah-


Das Bild stammt von Clay Banks auf Unsplash.com.

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