Spiel, Spaß und Spannung in der Todeszone von Tschernobyl

Lust auf Urlaub? Der Schauplatz des größten nuklearen Unfalls aller Zeiten wartet auf dich! Besichtige diesen faszinierenden Ort und genieße das Knacken deines Geigerzählers inmitten einer Geisterstadt. Ein strahlend blauer Himmel lädt zu einem Spaziergang durch Ruinen ein und ein verrosteter Freizeitpark liefert dir den perfekten Hintergrund für deine Selfies. Erkunde die Gegend und finde den Autofriedhof, auf dem die Liquidatoren damals ihre Fahrzeuge abstellten. Sie sind so stark verstrahlt, dass sie auch heute noch töten. Es gibt so viel zu erforschen! Buche am besten also gleich eine Hotelübernachtung innerhalb der Sperrzone.

Worauf wartest du noch?

Denkst du etwa, dass es ungesund sei, einen Fuß in den 30-km-Umkreis eines zerstörten Atomreaktors zu setzen? In meiner Naivität dachte ich das bis vor kurzem auch noch. Aber scheinbar ist Pilze-Sammeln in Süddeutschland gefährlicher als in der Todeszone rumzulaufen. So richtig einleuchtend finde ich das nicht. Über Süddeutschland regneten 1986 radioaktive Teilchen aus der Wolke nieder, die beim GAU entstand. In der Gegend um den Reaktor wurden 150.000 Menschen evakuiert. Man könnte meinen, letzteres sei irgendwie schwerwiegender, aber dem ist wohl nicht so.

Obwohl die durchschnittliche Strahlung den Normalwert um ein 100faches übersteigt, werben Reiseanbieter erfolgreich mit Führungen durch das Sperrgebiet. Außerdem ziehen Abenteuerlustige los, um diesen Ort der Angst auf eigene Faust zu besichtigen. Der Tourismus boomt: Zwischen 8000 und 16.000 Touristen besuchen das Gebiet jährlich.

Moment mal!

Ist es nicht tödlich, sich einer Strahlung auszusetzen, die den gesunden Grenzwert um ein 100faches übersteigt? Doch ist es. Aber die Strahlung ist ganz unterschiedlich verteilt. Auch wenn sich für das ganze Gebiet ein 100fach erhöhter Wert errechnet, bedeutet das nicht, dass dieser Wert auf jedem einzelnen Quadratmeter vorherrscht. Dort, wo radioaktive Trümmer vergraben liegen, sind die Strahlungswerte enorm hoch. An anderen Stellen liegen sie hingegen kaum über dem Normalwert. Man sagt, dass man bei einem eintägigen Aufenthalt in Tschernobyl oder Prypjat nicht mehr Strahlung abbekommt als bei einem Transatlantikflug. Vorausgesetzt natürlich, man achtet immer auf seinen Geigerzähler und hält sich an die Warnschilder.

Tut man es nicht, besteht die Gefahr, in sogenannte „Hot Spots“ reinzulaufen. An diesen Stellen ist die Strahlung so stark erhöht, dass einige Tage später der Tod eintritt, selbst wenn der Aufenthalt nur wenige Minuten lang gewesen sein sollte. Das gilt zum Beispiel für den oben genannten Autofriedhof.

Die Reise nach Tschernobyl hat einen bitteren Beigeschmack. An den Langzeitfolgen des GAUs sind bislang ca. 60.000 Menschen gestorben. Was macht einen Ort des Schreckens wie diesen zu einem begehrten Reiseziel? Schon allein wegen der gesundheitlichen Risiken hätte ich nicht die geringste Lust, die Todeszone zu besichtigen. Aber die Touristen sehen das scheinbar anders. In ihrer Sensationslust betrachten sie die Sperrzone als gigantischen Abenteuerspielplatz, der nur darauf wartet, erforscht zu werden.

Postapokalypse als Sehenswürdigkeit

Unmittelbar nach der Katastrophe mussten 150.000 Menschen evakuiert werden. Was blieb, war eine Momentaufnahme des Lebens in der Sperrzone im Jahr 1986. Tschernobyl ist also eine Art Freilichtmuseum. Bei der Besichtigung ist jedoch nicht die damalige Lebensweise von Interesse, sondern die Atmosphäre der Angst, die greifbar ist.

In öffentlichen Gebäuden liegen Schulbücher, Dokumente und Atemmasken verstreut herum. Auch die Wohnungen befinden sich in dem Zustand, in dem sie verlassen wurden. Stößt man bei der Erkundungstour auf Zeugnisse der Panik, kann man sie stimmungsvoll arrangieren und anschließend fotografieren. Außerdem finden sich überall Orte, die eine fantastische Fotokulisse bieten.

Die Katastrophe ereignete sich am 26. April, deswegen waren die Vorbereitungen für die Maifeier in vollem Gange und die Eröffnung eines Freizeitparks stand bevor. Als Fotomotiv ist dieser, von der Natur halb zurückeroberte, Vergnügungspark mit dem verrosteten Riesenrad sehr beliebt. Allerdings kann man wahlweise auch vor dem Hintergrund eines Atommülllagers, eines Atomwarnschildes oder eines verfallenen Schwimmbades Selfies knipsen.

Doch der Ausflug in die Sperrzone liefert mehr als nur neue Profilbilder. Es lassen sich dort Urlaubserfahrungen sammeln, die man anderswo nicht machen würde. Wo sonst kann man mit einem Geigerzähler durch verlassene Städte laufen? Das Ganze hat etwas Surreales, Postapokalyptisches an sich.

Nichts für mich

Trotz all der vermeintlichen Vorteile finde ich das Ganze etwas makaber. Bei der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl wurde 200 mal mehr Strahlung freigesetzt als bei den Atombomben-Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki. Ein Gebiet touristisch zu erschließen, das derart kontaminiert ist, scheint unangemessen zu sein. Ganz zu schweigen von den tausenden Toten, die der Unfall gefordert hat und weiterhin fordern wird.

Wie lange wird es vor diesem Hintergrund dauern, bis man die Sperrzone von Fukushima bereisen kann? Die japanische Regierung hat letztes Jahr einzelne Wohngebiete am Rande der Sperrzone wieder freigegeben, von daher wird es wohl nicht mehr lange dauern.

Weitere Infos zur Lage in Tschernobyl findet ihr hier: https://tschernobyl-info.de/

Bildquelle: Flickr.com Urheber: Carl Montgomery Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de (unbearbeitet)

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