Menschenrechte und Kolonialität – Fluch und Segen

Dieser Text ist Teil der Reihe „Unser Blickpunkt“ des EPIZ Entwicklungspolitisches Informationszentrum Göttingen.


„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ – Am 10. Dezember 1948 wurde die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verkündet. Sie feiert in diesem Jahr 75-jähriges Jubiläum.

Logo 75 Jahre Menschenrechte. Bildrechte: EPIZ Göttingen

Schon vor diesem Datum gab es Menschenrechte in unterschiedlichen Ausführungen überall auf der Welt. In Europa wurde Menschsein ab dem 19. Jahrhundert vor allem in Abgrenzung zu Gott auf der einen und Tieren auf der anderen Seite verstanden. Nicht alle Menschen wurden dabei jedoch als solche anerkannt: Frauen, Schwarze und generell kolonisierte Menschen blieben meist außen vor. Die Definitionsmacht darüber, wer als Mensch galt, nahmen zumeist weiße Kolonisator*innen für sich in Anspruch – und damit auch die Entscheidung, wem Menschenrechte zustanden. Das vereinfachte die Legitimation kolonialer Herrschaft: Der Nobelpreisträger Robert Koch führte auf dieser Grundlage Menschenexperimente in Kolonien durch. Menschen wurden zu Ressourcen, zu Fundgruben wissenschaftlicher Erkenntnis. Dies ist unter anderem ein Ausdruck von „epistemischer Gewalt“: jener Gewalt, die mit unserem Wissen zu tun hat.

Die Unterscheidung zwischen Menschen lässt sich auch auf die Unterscheidung zwischen Sprachen anwenden, denn auch die Linguistik ist kolonial und eurozentrisch gewachsen. Die aktuelle Sonderausstellung im Göttinger „Forum Wissen“ setzt sich mit genau dieser Problematik auseinander. Sie beschäftigt sich mit Sprachforschung während des Ersten Weltkrieges in einem Kriegsgefangenenlager und fragt, wer die Forschung auf welche Art und Weise aktiv mitgestalten konnte: Wer forschte und wer wurde untersucht? Wer produziert unser Wissen? Wie und wo wird es erzeugt, wer eignet es sich an und warum?

Dies sind auch Gedankenanstöße für ethnologische Sammlungen: Denn auch das Sammeln und (Um-)Benennen von Objekten aus den Kolonien und deren Zurschaustellung in Europa, dem hegemonialen Zentrum, ist Ausdruck epistemischer Gewalt. Menschenrechte sind also mit Kolonialität verwoben. Sie lieferten in einigen Fällen, beispielsweise bei Robert Koch, die Grundlage für koloniale Gewalt und Ausbeutung, aber auch für antikoloniale Kämpfe und Widerstand – und können somit auch der Schlüssel für ein pluriverselles Verständnis vom Menschsein sein.

Daher: Lasst uns das Jubiläum feiern, aber dabei auch kritisch auf die Menschenrechte und ihre (Nicht-)Anwendung schauen. In ganz Deutschland gibt es begleitende Veranstaltungsprogramme zum Jubiläumsjahr, unter Anderem in Duisburg, an der Uni Würzburg oder in Göttingen.

Frohes und reflektiertes Feiern!
Annika Bucher, Chris Herrwig und das EPIZ-Team


Beitragsbild: humanrichtsspray von pixabay.com

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