Indigene und nationale Minderheiten in Europa

Vorgestern, am 9. August, war der Tag der indigenen Völker der Welt. UN-Schätzungen zufolge gehören ca. 370 Millionen Personen weltweit einer indigenen Bevölkerungsgruppe an (bpb). Zum Vergleich: In den USA leben 320 Millionen Personen.

Dieser Artikel soll inspirieren, sich ausführlicher mit den in Europa lebenden Minderheiten und den Situationen in ihren Heimatländern zu beschäftigen. Also, los geht’s!  

Was bedeutet eigentlich „indigen“?

Laut einer Definition der UN wird eine Bevölkerungsgruppe als indigen bezeichnet, wenn sie folgende Kriterien erfüllt (Deutscher Verband der freien Übersetzer und Dolmetscher e. V.):

  • historische Kontinuität (territoriale Bindung)
  • Marginalität (heutige Randstellung wegen Besiedlung/Eroberung von außen)
  • kulturelle Distanzierung von der dominanten Kultur des Staates (eigene Kultur, eigene Organisationsformen)
  • Selbstidentifikation

 

Die indigenen Bevölkerungsgruppen Europas und der Europäischen Union

Wir haben uns die Frage gestellt: Welche indigenen Gruppen gibt es nach dieser Definition eigentlich in Europa? Und schnell gemerkt, dass diese einfach anmutende Frage gar nicht mal so leicht zu beantworten ist.

Betrachtet man Europa nämlich als Kontinent, so gehört auch Russland dazu. In Russland leben laut International Work Group for Indigenous Affairs 40 indigene Minderheiten. Wenn ihr mehr über diese Gruppen erfahren möchtet, findet ihr hier und hier Übersichtsartikel.

Betrachtet man das politische Europa, die Europäische Union, so ist Frankreich ein Land, in dem indigene Gruppen leben. Das liegt daran, dass offiziell (noch) Französisch-Guayana und Neukaledonien zu Frankreich gehören, also Bewohner der Länder auch französische Staatsbürger sind. In Neukaledonien, wo 2018 knapp gegen die Unabhängigkeit gestimmt wurde, leben die Kanak, welche ca. 40% der Einwohner der Inseln darstellen (Süddeutsche Zeitung). In Französisch-Guayana leben sechs verschiedene indigene Gruppen, die insgesamt ca. 10% der Landesbevölkerung ausmachen (Klimabündnis).

Auch in Dänemark ergibt sich eine ähnliche Situation, denn Grönland, das Land in dem die Inuit leben, ist innenpolitisch zwar ein unabhängiger Staat, wird außenpolitisch aber von Dänemark vertreten. Bewohner Grönlands sind deshalb rechtlich gesehen dänische Staatsbürger.

Kurzvorstellung: Die Sámi

Das einzige der europäischen indigenen Völker, welches sowohl geographisch als auch politisch in Europa lebt, ist das Volk der Sámi, auch Saamen genannt. Sie sind wohnhaft in den nördlichen Regionen Schwedens, Finnlands, Norwegens und auch Russlands. Traditionell leben sie von der Rentierzucht. In jedem ihrer drei Heimatländer sind ihre Sonderrechte verschieden: So ist in Norwegen beispielsweise ausschließlich den Sámi das Halten von Rentieren erlaubt. Sie verfügen in jedem der Länder über ein eigenes Parlament und haben durch den länderübergreifenden Samenrat ebenfalls politischen Einfluss.

Ein großes Problem für die Sámi und ihre Rentiere ist die Holzindustrie. Denn die Rentiere, die das ganze Jahr über in freier Wildbahn leben, überleben den Winter häufig nur durch fetthaltige Flechten, die an alten Bäumen wachsen. Werden diese gefällt, so bricht für die Rentiere ihre Hauptnahrungsquelle weg. Zudem gibt es immer wieder Auseinandersetzungen über Bauprojekte auf ursprünglich indigenem Gebiet. Mehr dazu könnt ihr bei der Gesellschaft für bedrohte Völker nachlesen.

Auch die besondere Handwerkskunst, insbesondere selbstgewobene Textilien, zeichnen die traditionelle Sámi-Kultur aus.

Doch um direkt Vorurteile zu unterbinden: Es ist nur noch ein kleiner Teil der Sámi heutzutage traditionell Rentierhüter*in. In diesem Artikel schreibt Aile Aikio darüber, inwiefern man sich gleichzeitig als Sámi und Europäerin fühlen kann.

Nationale Minderheiten

Zwar gibt es somit je nach Definition nur vergleichsweise wenige indigene Völker in Europa. Doch unter einer anderen Bezeichnung leben noch deutlich mehr verschiedene Völker und regionale Gruppen hier: Nationale Minderheiten.

„Unter nationalen Minderheiten versteht man Personen, die

  • im Hoheitsgebiet eines Staates ansässig und dessen Staatsbürger*innen sind,
  • langjährige, feste und dauerhafte Bindungen zu diesem Staat haben,
  • besondere ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Merkmale aufweisen,
  • ausreichend repräsentativ sind, obwohl ihre Zahl geringer ist als die der übrigen Bevölkerung dieses Staates oder einer Region dieses Staates,
  • den Willen haben, die für ihre Identität charakteristischen Merkmale gemeinsam zu erhalten.“ (humanrights.ch)

 

Diese nationalen Minderheiten erhalten unter dem „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“ des Europarates in ihren Heimatländern besondere Rechte. Es ist jedoch an jedem EU-Mitgliedsstaat, selbst festzulegen, welche Gruppen letztlich als „nationale Minderheit“ definiert werden und inwiefern das Übereinkommen umgesetzt wird.

Zu den Sonderrechten gehören unter anderem das Recht auf eine staatliche Förderung, z.B. für eigene Forschungsanstalten und Bildungsprojekte, das Recht, Ideen in der eigenen Sprache mitteilen zu dürfen ohne Eingriffe öffentlicher Stellen, beispielsweise auch in Form von Zeitschriften und Radio- oder Fernsehfrequenzen. Genaueres findet ihr auf der Webseite zum Rahmenübereinkommen.

Welche nationalen Minderheiten gibt es in Deutschland?

Auch hier in Deutschland gibt es vier nationale Minderheiten. Wisst ihr welche?

Die Antwort:

  • die dänische Minderheit (ca. 50.000 Menschen, die in Schleswig-Holstein leben)
  • die friesische Volksgruppe (ca. 60.000 Menschen, die entlang der Nordseeküste leben)
  • das sorbische Volk (ca. 60.000 Personen, die in Sachsen und Brandenburg leben)
  • und die deutschen Sinti und Roma (ca. 70.000 Menschen, die über das ganze Land verteilt leben)

Die Quellen und mehr Informationen über die einzelnen Minderheiten findet ihr hier: bpb, Gesellschaft für bedrohte Völker, Deutscher Verband der freien Übersetzer und Dolmetscher e. V.

Sprachliche Minderheiten — Jede*r siebte Europäer*in gehört dazu!

Ein wichtiger Aspekt von Minderheiten ist ihre Sprache. Nationale Minderheiten sind deswegen auch immer sogenannte autochtone bzw. sprachliche Minderheiten. Nicht alle sprachlichen Minderheiten erhalten jedoch den Status „nationale Minderheiten“. Dabei gibt es in der EU eine ganze Menge Menschen, die per Definition zu dieser Gruppe gehören!

Laut der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten gehört jede*r siebte Europäer*in einer sprachlichen Minderheit an. Zudem gibt es neben den 24 offiziellen Sprachen der EU ca. 60 weitere Regional- und Minderheitensprachen, von denen 53 als sogenannte „staatenlose Sprachen“ gelten, wie beispielsweise Romani oder Jiddisch (siehe dieser Artikel).

Ein Beispiel, warum die Integration sprachlicher Minderheiten eine wichtige, aber oft schwierige Angelegenheit ist, zeigt die Situation der russischen Minderheit Lettlands. Die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den baltischen Ländern gebliebenen Russen haben nicht die lettische Staatsbürgerschaft erhalten, wodurch ihnen beispielsweise das Wahlrecht verwehrt bleibt. Sie gelten offiziell als „Nichtbürger“, haben also weder eine russische noch eine lettische Staatsbürgerschaft. Mehr zum Thema gibt’s beim Deutschlandfunk.

Ein kleines Fazit

Dieser Artikel ist nur eine kleine Einleitung zu einem, wie ihr merkt, sehr komplexen Thema mit vielen unterschiedlichen Begrifflichkeiten.

Jede einzelne der hier genannten indigenen Gruppen und (nationalen) Minderheiten haben eine eigene Geschichte, eigene Traditionen und auch Problematiken, mit denen sie früher und heute zu kämpfen hatten und haben. Und innerhalb der verschiedenen indigenen Gruppen lebt jede*r Einzelne diese Kultur und Geschichte auf seine Art und zu unterschiedlichem Grade heute noch aus.

Falls ihr mehr über die Situation der verschiedenen Minderheiten in Europa erfahren möchtet, schaut euch auf jeden Fall die verlinkten Quellentexte und -seiten der spannenden Organisationen an, die sich genauer damit beschäftigen. Es lohnt sich!!


Zum Beitragsbild: © European Union 2017 – European Parliament

Das Beitragsbild ist unter Creative Commons License geschützt und hier zu finden. Es zeigt die Lux Price Preisverleihung mit den Schauspielerinnen Lene Cecilia Sparrok (links) and Mia Erika Sparrok mit ihrem Film: „The world must know how they treated the Sami people“.

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