„Es wird einmal…“- Zwei Gewinnerinnentexte des CARE-Schreibwettbewebs 2020

Die Gewinner*innen des CARE-Schreibwettbewerbs 2020 stehen fest! Das diesjährige Thema lautete: „Es wird einmal…“. Wir möchten euch hier zwei Gewinnertexte vorstellen:

„Wald aus Stahl, Solarmeer“ der 14-jährigen Katharina Heinrichs thematisiert nach und nach Geschlechterrollen, erneuerbare Energien, umweltbewusste Ernährung und viele weitere Themen, die uns heute bewegen und noch lange bewegen werden. Besonders das Ende bereitet Gänsehaut.

„Allein. Erziehend. Oder: Das Leberfleck-Orakel“ der 22-jährigen Katharina Kunert bietet Einblicke in die Gedanken eines Mädchens, das seine Zukunft von Tag zu Tag definiert und anhand eines besonderen Orakels vorhersieht. Intensiv und fantasievoll.

Diese und alle anderen Gewinner*innentexte könnt ihr im „Best of CARE-Schreibwettbewerb 2020“-Sammelband nachschlagen. Er ist kostenlos zum Download verfügbar oder bestellbar. Auch die Sammelbände der vorherigen Schreibwettbewerbe sind hier zu finden.

Und jetzt viel Spaß beim Schmökern!


„Wald aus Stahl, Solarmeer“ von Katharina Heinrichs

Grübelnd kaue ich auf meiner Unterlippe herum, tippe Antworten ein und lösche sie wieder. Der Gedanke taucht auf, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, all die unzähligen Intensivförderungen am Gymnasium abzulehnen. Aber bevor meine Hausaufgaben es endgültig schaffen, dass ich Lebensentscheidungen in Frage stelle, werde ich von Grandma nach unten gerufen: „Alex, es geht gleich los!“ Seufzend schalte ich das Tablet aus und stecke es in eine willkürlich ausgewählte Schublade des neuen Schreibtischs. Ich habe ihn erst vor Kurzem geschenkt bekommen, komplett aus Recycling-Holz, weil Ma will, dass ihr Kind ein Zimmer hat, welches dem „Trend entspricht“.   „Beeil dich Alex!“ Es ist eigentlich schon eine Tradition, dass wir bei Familienfeiern immer spät dran sind. Manchmal pflegt Grandma dann zu sagen: „Tja, hättet ihr die Zeitverschiebung nicht abgeschafft, müssten wir jetzt nich’ so hetzen…“ In solchen Fällen nicke ich nur, im Wissen, dass es nichts bringen würde mit ihr darüber zu streiten, ob man an der Zeit herum-drehen sollte oder nicht.

Jedenfalls sind wir heute anlässlich Grandmas 100. Geburtstags auf die Grillparty meiner Schwester und ihrer Frau eingeladen. Ich freue mich, weil meine Schwägerin die besten Burger macht, niemand versteht sich so gut darauf die Insekten zu würzen wie sie, außerdem haben sie erst vor kurzem ein unglaublich süßes Baby bekommen. In der Küche packt Ma noch schnell den Obstsalat in die Kühltasche. Seit ein paar Jahren sind Früchte wieder ein wenig günstiger geworden. In meiner Kindheit waren all die Erdbeeren, Äpfel, und wie das sonst noch alles heißt, eine echte Seltenheit gewesen. Anfangs habe ich mich dann gar nicht getraut sie „einfach nur so“ zu essen. Wir gehen eilig aus dem Haus. Pa redet mit Ma wie eigentlich immer über Geld. Diesmal sein Lieblingsthema: Zusatzsteuern. Wiederherstellung der Fauna und der Gletscher, Säuberung des Meers, jetzt noch für den CO2-Verbrauch beim Grillabend…

Draußen begrüßt uns das altbekannte Wuschwuschwuschwusch der Windräder. Die endlos hohen Säulen erheben sich überall in der Stadt. Ein Wald aus Stahl… Ehrlich gesagt fällt mir das nur auf, weil Grandma Jedes. Einzelne. Mal., wenn sie aus dem Haus geht, grummelt: „Kaum ist der Lärm der Autos aus der Welt, kommen diese Dinger zu uns!“ Viele alte Menschen nehmen deswegen anscheinend auch Tabletten. Ich kann es wie gesagt nicht nachvollziehen, also speichere ich, während neben mir die Schimpftirade los-geht, die Metapher, die mir gerade eingefallen ist. Seltene Worte wie „Wald“ sind im Schreibkurs gern gesehen. Wir steigen ins Auto, mein Vater tippt das Ziel ein, startet den Wagen und holt dann den Gutschein aus der Tasche, den wir Grandma schenken wollen. Das ist typisch, er macht so etwas immer auf die letzte Minute. Ma liest irgendein E-Book, und ich schaue aus dem Fenster. Bea wohnt mit ihrer Familie im höheren Teil der Stadt, bei der Hausverteilung hatten sie wirklich Glück gehabt. Man kann auf die Stadt heruntersehen, auf ein Meer aus Solardächern, blau und glitzernd in der Sonne.

Irgendwann merke ich, dass Grandma mich von der Seite anschaut. „Was ist?“ Sie schüttelt lächelnd den Kopf: „Nichts, nichts, mir ist nur aufgefallen, wie schön und groß du bereits geworden bist. Und bald wirst du achtzehn… Weißt du eigentlich schon, welchen Namen du annimmst? Oder bleibt es bei Alex?“ Ich zucke die Schultern: „Keine Ahnung, aber meine Entscheidung wird auf jeden Fall davon beeinflusst, dass meine Eltern bei weiblich AGNES eingetragen haben!“ Letzteres sage ich laut Richtung meiner Eltern, doch die lachen nur. Über ihre Namenswahlen beschwere ich mich schon seit meinem siebten Lebensjahr, aber das ist bei meinen Mitschülern auch so. Bei der Geburt müssen alle Eltern drei Namen eintragen, einen für jedes Geschlecht, in dem ihr Kind ab da weiterleben will. Ich wechsle das Thema: „Was glaubt ihr werden bei der Feier die großen Themen sein?“ Meine Mutter überlegt kurz: „Die Bibel-Umschreibung auf jeden Fall. Da stecken die gerade mitten drin, und erste Ergebnisse gibt es ja auch schon. Und Onkel Jeff ist da, gepaart mit deinem Vater wird das eine heftige… Diskussion.“ Grandma kichert. Die beiden Männer sind definitiv die Sturköpfe der Familie. Pa ignoriert das: „Ich vermute der neue Weltfriedensvertrag. Bea ist ja frisch von den Konferenzen zurück, bestimmt hat sie eine Menge zu erzählen…“ Ich höre den Stolz in seiner Stimme. Meine Schwester war dafür ausgewählt worden, an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, sie ist jetzt drei Monate dafür auf Reisen gewesen. Vermutlich wird sie noch ganz schön erschöpft sein. Ich will sie trotzdem unbedingt wegen des Fluges ausfragen. Flugplätze sind wegen des CO2 selten, teuer und begehrt geworden. Sie durfte wegen der Arbeit jetzt das erste Mal fliegen. Damit ist sie bis auf Grandma die Erste in der Familie. Die Vorstellung, über den Wolken und einem strahlend blauen, leeren Horizont zu schweben, fasziniert mich. Deswegen verfolge ich in den Nachrichten besonders den Ingenieur-Teil. Erfinder sind kurz davor die Flugzeuge genauso mit Strom zu betreiben wie die Autos. Wenn sie es wirklich so bald schaffen, wie sie versprechen, wünsche ich mir zum Achtzehnten ein Flugticket. Auf irgend-eine dieser Inseln ohne Windräder, Autos oder WLAN-Wellen. Letzteres kann ich ehrlich gesagt nicht ganz glauben.

Dann sind wir endlich da. Der Autopilot parkt ein und wir steigen aus. Bea und Mariann kommen uns entgegen, und Mariann hält Baby Cy im Arm. Seit der Geburt des Kindes hat sie beschlossen zu Hause zu bleiben und Vollzeitmutter zu sein. Ich kann nicht anders, als sie dafür zu bewundern. In ein Klischee aus alten Zeiten zu schlüpfen, muss viel Mut erfordern. Corey kommt auch schon angerannt, das jüngste Kind von Mas Bruder Jeff. Grandma lacht, als Corey sich in ihre Arme wirft: „Na, was möchtest du diesmal wissen? Habt ihr in Geschichte wieder irgendwelche Hausaufgaben?“ Corey nickt eifrig, doch dann, als die Frage erklingt, sehe ich wie Omas Gesichtsausdruck kurz merkwürdig wird, als wäre eine unangenehme Erinnerung wachgerufen worden. „Oma, was ist ein Schneemann?“


„Allein. Erziehend. Oder: Das Leberfleck-Orakel“ von Katharina Kunert

Mamas Hand ist ein bisschen blass. Die kleinen braunen Flecken darauf, von denen ich auch so viele habe, sehen heute aus, als hätte sie jemand mit Filzstift aufgemalt. Ich tippe einen nach dem anderen mit meinem Zeigefinger an. Tipp. Tipp. Tipp. Dann male ich mit meinem Finger kleine Verbindungen zwischen ihnen. Wie bei Sternzeichen. Mama hat mal gesagt, dass wir an den Verbindungen unsere Zukunft ablesen können. Dass wir deshalb so viele von den kleinen Leberflecken haben, weil wir eine besonders aufregende Zukunft vor uns haben. Das war an meinem neunten Geburtstag. Seitdem ist nicht so viel Tolles passiert. Aber vielleicht kommt das noch. Ganz bestimmt kommt das noch. Aus Mamas Mund kommt ein kleines Schnarchen. Eigentlich finde ich das immer lustig. Manchmal klingt das nämlich wie ein Akku-Bohrer und ich stelle mir dann vor, dass Mama gerade träumt, dass sie einer ist und deshalb solche Geräusche macht. Aber heute kann ich darüber nicht lachen. Schon die ganze Woche war sie ganz schlapp und ist jeden Abend auf dem Sofa eingeschlafen. Heute auch wieder. Obwohl doch der Tatort läuft. Beim Tatort schläft sie sonst nie ein. Aus dem Fernsehlaut-sprecher scheppern Ballergeräusche und ein blöder Polizist schreit irgendwas Bescheuertes. Ich nehme ihre schmale Hand wieder in meine.

Mal sehen, was das Leberfleck-Orakel mir heute sagt. Ich fange bei dem kleinen Punkt rechts neben ihrem Daumennagel an. Dann male ich die Gedankenlinie im Zickzack nach unten, mache einen kleinen Schlenker, eine Rechtskurve – und komme dann wieder beim Anfangspunkt an. Ein Schiff, es ist ein Schiff! Und das kann ja wohl nur eins bedeuten: Dieses Jahr fahren wir in den Urlaub! Und zwar nicht mit der S-Bahn an den Wannsee. Diesmal fahren wir mit einem Schiff ganz weit weg, vielleicht sogar auf so eine Insel mit Palmen. Wie die in der Trivago-Werbung. Dann kann ich den Leuten in meiner Klasse richtig echte Fotos aus dem Urlaub zeigen. Letztes Jahr war es ganz schön knapp. Da habe ich erzählt, dass ich mit Mama auf Mallorca war. Lena hat mich plötzlich gefragt, in welchem Ort genau und da wusste ich nicht, was ich sagen soll. Dann haben sich alle so vielsagend angeguckt, Lena hat sogar gegrinst. Ich weiß noch genau, was für ein heißes Gefühl sich da auf einmal in meinem Bauch breit gemacht hat, mir ist richtig schlecht geworden. Und auf ein-mal habe ich „Palma“, gesagt. Den Namen kann ich mir so gut merken, weil der wie „Palme“ klingt, und Palmen mag ich doch so gern. Lena hat dann „cool“ gesagt und war auf einmal wieder nett zu mir. Sie hat mir ganz viele tolle Sachen aus ihrem Urlaub erzählt und mich gefragt, ob ich die mit meiner Mutter auch unternommen habe. Ich habe die ganze Zeit genickt wie so ein scheiß Wackeldackel und als ich aus der Schule kam, habe ich nur geheult. Ich werde immer noch so wütend, wenn ich an diesen Tag denke. Auf mich, auf Lena – und ein bisschen auch auf Mama. Weil sie ja diejenige ist, die mit mir nur an den Wannsee fährt und nicht in ein tolles Hotel irgendwo im Süden.

Auf einmal hasse ich mich. Meine liebe, arme Mama tut alles für mich und ich denke solche gemeinen Sachen. Ich drücke ihre Hand ein bisschen zu doll und wieder entfährt ihr ein leises Schnarchen. In der Schule haben wir seit Montag Projekt-woche. Jeder soll seine Stärken und Schwächen herausfinden und sich am Ende für einen Beruf entscheiden. „Ich werde einmal …“, steht auf den unzähligen Plakaten, die an alle freien Wände der Schule geklatscht wurden. Daneben sind Bilder von Astronauten, Fußballern und sogar der Bundeskanzlerin zu sehen. Die ganze Woche habe ich mich dazu gezwungen, genauso dämlich zu grinsen wie die anderen, wenn ich nach meinem Traumberuf gefragt werde. Genauso fröhlich von meiner Zukunft zu reden wie Lena, die natürlich Hotelbesitzerin werden will. Wahrscheinlich auch noch auf Mallorca – blöde Kuh. Als ich am Freitag der ganzen Klasse meine blühende Zukunft vorstellen sollte, habe ich schnell auf eins dieser doofen Plakate geguckt und gesagt, dass ich Bundeskanzlerin werden will. Meine Lehrerin fand das ganz toll. Dass ich so engagiert und motiviert in die Zukunft schaue.

Als ob ich dafür gerade ernsthaft Nerven hätte – über irgendwas nachzudenken, das weiter als einen Tag entfernt ist. Letzte Woche ist nämlich so ein gelber Zettel in unseren Briefkasten geflattert. Mama hat ihn mir schnell weggenommen, aber ich konnte noch sehen was darauf stand. Irgendetwas von „Wasserrechnung“ und „Mahnung“. Am Montag stand ich dann in der Dusche und es kam kein Tropfen Wasser mehr raus. Ich dachte, sie sei einfach wieder kaputt – aber als ich stattdessen Katzenwäsche am Waschbecken machen wollte, kam da auch nichts raus. Ich bin dann mit Mama zum Hallenbad gelaufen und wir haben da geduscht. Als ich deshalb zu spät zur Schule kam, habe ich richtig Ärger bekommen – statt der peinlichen Wahrheit sagte ich nämlich einfach, ich hätte verschlafen. Was hätte ich auch sagen sollen: „Meine Mutter rackert sich jeden Tag ab, ist aber trotzdem zu arm, um die Wasserrechnung zu zahlen“? Oder lieber: „Mein Vater zahlt keinen Unterhalt, aber meine Mutter ist zu stolz, um beim Amt einen Mini-Geldzuschuss zu beantragen, für den wir im Gegenzug alle Ausgaben offenlegen müssen“? Dann doch lieber lügen. Die ganze Woche hat Mama dann versucht, das Wasserproblem wieder in den Griff zu bekommen. Am Freitag nach der Schule sind wir dann zusammen zu den Stadtwerken. Schon irgendwie ironisch: am Vormittag Bundeskanzlerin, am Nachmittag um Wasser betteln. Bei den Stadtwerken empfing uns ein Mann im Anzug. Mama schilderte ihm das Problem, aber er blieb steinhart und Mama wurde immer kleiner. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gebrüllt. Jetzt ist Sonntag, die Dusche ist immer noch staubtrocken. Vielleicht wäre ich als Bundeskanzlerin in der Zukunft doch gar nicht so schlecht – als erstes würde ich verbieten, dass man Mamas so klein macht. Aber Zukunft ist ein großer Begriff. Zu groß für mich. Zukunft heißt für mich: Haben wir morgen wie-der Wasser? Lächelt Mama morgen wieder? Mal sehen – vielleicht weiß das Leberfleck-Orakel ja etwas.

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