24 Jul 2024 Das Ende des Neo-Extraktivismus als Chance für Lateinamerika im Rohstoff-Streit?
Die Bedeutung von Rohstoffen kann heutzutage gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vor allem als zukunftsträchtig deklarierte Technologien wie Elektroautos oder erneuerbare Energien wie Windkraftwerke sind auf wichtige Rohstoffe wie Lithium oder Kobalt angewiesen. Wenn man sich die Entwicklung des Klimawandels mal anschaut, sind wir mindestens genauso darauf angewiesen. Aber auch der Blick auf die Gegenwart zeigt deutlich, wie abhängig wir von diesen Rohstoffen und seltenen Erden sind. Egal ob im Handy, Auto oder im PC auf der Arbeit. Da lässt sich natürlich die Frage stellen, woher kommen diese Rohstoffe denn überhaupt und vor allem, wie werden diese gewonnen? Um das zu beleuchten, möchte ich in diesem Beitrag über den Neo-Extraktivismus schreiben, der in den vergangenen Jahrzehnten die Geschehnisse in Lateinamerika geprägt hat, allerdings immer mehr in der Kritik steht.
Was ist Neo-Extraktivismus?
Bei Extraktivismus handelt es sich grundsätzlich um eine Entwicklungsstrategie, welche auf der Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für den Export basiert. Aus dem Extraktivismus entstand später dann der Neo-Extraktivismus, bei dem die Gewinne aus dem Rohstoffhandel in die Bevölkerung und Infrastruktur reinvestiert werden sollen. Er gilt als post-neoliberale Variante des klassischen rohstoffbasierten Wirtschaftsmodells und hat die letzten Jahrzehnte Lateinamerikas dominiert. Der Unterschied zwischen klassischem Extraktivismus und Neo-Extraktivismus zeigt sich durch umfangreiche sozialpolitische Anstrengungen zugunsten der benachteiligten Bevölkerung. Weiterhin war das Ziel die Wiederaneignung der Kontrolle des Staates über zentrale ökonomische Ressourcen. Die Einnahmen aus Primärgüterexporten wie zum Beispiel Erdöl, Erdgas oder Kupfer sollen dabei für den gesellschaftlichen Fortschritt und mehr soziale Teilhabe eingesetzt werden.
Das Modell erhielt viel Zuspruch und politische Unterstützung, da man sich so eine stärkere Orientierung auf die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit und auf die Stärkung der Rolle des Staates in der Extraktion und bei der Aneignung von Rohstoffrenten versprach.
Die Probleme des Neo-Extraktivismus
Allerdings kommt es beim Neo-Extraktivismus auch zu Problemen. Durch den Fokus auf den Rohstoffexport wurde die asymmetrischen Einbindung Lateinamerikas im Weltmarkt weitergeführt und verstärkt. Es behält im Weltmarkt also seine Abhängigkeit von den in den Ländern vorhandenen Rohstoffen. Die ökonomischen Abhängigkeiten der Exportländer festigten sich nicht nur durch die traditionellen Exporte im Globalen Norden, sondern auch durch die steigende Nachfrage aus Asien, besonders von China.
Bundesentwicklungsministerin Schulze warnte erst kürzlich davor die Ausgaben für Entwicklung zu kürzen, da sich dort, wo sich der Westen zurückzieht, Russland und/oder China ausbreiten. Wenn sich die Länder des Globalen Südens noch abhängiger vom Weltmarkt machen, straucheln sie vielleicht nur von einer Abhängigkeit in die Nächste. Dabei könnte ja das Engagement von Russland und/oder China die Chance sein von dem größeren Wettbewerbsaufgebot zu profitieren.
Der Preis für Wachstum und Entwicklung ist hoch und zeigt sich in den starken Umweltschäden und entstandenen sozialökologischen Konflikten. Zusätzlich machen sich die Länder durch die Vertiefung der extraktivistischen Strategien oftmals eben noch abhängiger vom Weltmarkt und dessen Rohstoffpreisen.
Die steigenden Rohstoffpreise aufgrund des russischen Angriffskriegs sorgten dafür, dass gerade die Länder Lateinamerikas, die vor allem Rohstoffexporteure sind, von den steigenden Preisen profitierten. Ein weiterer Grund ist dabei, dass diese Länder wenige Handelsbeziehungen mit Russland und der Ukraine führen. In ärmeren Ländern des Globalen Südens sorgte der mit dem Krieg in Korrelation stehende Preisanstieg für Lebensmittel für eine Verschärfung der Hungersnot.
Auf der anderen Seite konnte man zwischen 2014 und 2016 einen starken Rückgang der Weltmarkpreise für Rohstoffe beobachten, besonders bei Erdöl, Erdgas und Eisen, welche sich jeweils mehr als halbierten. Es kam zu rückläufigen Exporteinnahmen. Das hatte eine verminderte wirtschaftliche Dynamik zur Folge, wodurch es in vielen Ländern zu einer Rezession kam. Da die Idee des Neo-Extraktivismus ja darauf beruht, die Exporteinnahmen in die Bevölkerung und Infrastruktur zu reinvestieren, kann aus solch einer Wirtschaftskrise schnell eine soziale Krise entstehen.
Der Neo-Extraktivismus verstößt außerdem durch die Intensivierung der Rohstoffausbeutung, trotz Erfolgen in der Armutsbekämpfung, gegen die Interessen und Rechte sozialer Gruppen, wodurch es zu wachsendem Widerstand und Protesten kommt. In diesen Protesten wird vor der Zerstörung der ökologischen Grundlage und einer Aushöhlung demokratischer Grundprinzipien gewarnt. Wegen der ungleichen Verteilung der Umweltfolgen und den ungleichen Zugängen zu den Ressourcen, durch den energisch vorangetriebenen Rohstoffabbau, kommt es an vielen Orten zu Konflikten. Ein entscheidender Faktor dabei ist, dass sich die Ressourcenabbauprojekte vor allem in ländlichen Gebieten befinden, in denen kaum staatliche Strukturen vorhanden sind, weshalb die lokale Bevölkerung kaum Einspruchs- oder Gestaltungsmöglichkeiten besitzt.
Dabei werden Naturräume irreversibel zerstört, Trinkwasservorkommen verschmutzt und die biologische Vielfalt reduziert. Dennoch wurde das Modell des Neo-Extraktivismus als Ganzes wenig in Frage gestellt, aufgrund seiner breitenwirksamen Erfolge.
Ein neues Wirtschaftsmodel als Chance für Lateinamerika?
Das extraktivistische Entwicklungsmodell bleibt sehr verbreitet in Lateinamerika. Daran haben Negativbeispiele wie fehlende Überwindung der Armut, keine Investitionen aus Rohstoffgewinnen in die Bevölkerung und die Ermordung von Klimaaktivist*innen bisher auch nichts geändert.
Der Globale Süden verfügt über Unmengen an wichtigen Rohstoffen, die vor allem für die Zukunft immer wichtiger werden. Deshalb wird auch der „Kampf“ um diese Rohstoffe in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Es heißt ja so schön „Wenn zwei sich streiten freut sich der dritte“ – Der „Kampf“ um Rohstoffe des Westens gegen China und/oder Russland könnte für den Globalen Süden eine Chance sein, um daraus als Gewinner hervorzukommen. Mehr Wettbewerb könnte vielleicht das Mittel sein, um weniger abhängig von einzelnen Ländern zu sein und mehr die eigenen Stärken zu nutzen für eine stärkere Marktposition. Der Neo-Extraktivismus konnte zwar helfen die Armut in vielen Ländern zu bekämpfen, aber die Abhängigkeitsstrukturen nicht aufbrechen. Vielleicht kann ein anderes Modell dem Globalen Süden helfen, diese Chance, welche sich aus dem Rohstoff-Streit des Westens mit China/Russland ergibt, zu nutzen.
-Jan-
Beitragsbild: Pixabay
Weiterführende Literatur
Brand, Ulrich/Dietz, Kristina (2014): (Neo-)Extraktivismus als Entwicklungsoption? Zu den aktuellen Dynamiken und Widersprüchen rohstoffbasierter Entwicklung in Lateinamerika. In: Jakobeit/Müller/Sondermann/Wehr/Ziai. (Hg.): Entwicklungstheorien. Baden-Baden: Nomos, S. 133–170.
Burchardt, Hans-Jürgen/Peters, Stefan (2017): Der (Neo- )Extraktivismus in Lateinamerika nach dem Rohstoffboom. In: Dies. (Hg.) (2017): Umwelt und Entwicklung in globaler Perspektive. Ressourcen – Konflikte – Degrowth. Frankfurt/New York, Campus Verlag, S. 33–59.
Lateinamerika-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (2022): Warum Brasilien und Südamerika durch den Ukraine-Konflikt wichtiger für uns werden. Online: https://ladw.de/latin-america-brief/warum-brasilien-und-suedamerika-durch-den-ukrainekonflikt-wichtiger-fuer-uns-werden
Tittor, Anne/Flemmer, Riccarda (2016): Ressourcenkonflikte im Nord-Süd-Kontext und Rohstoffreichtum in Lateinamerika. Dossier zur Unterrichtsmappe ›Menschen. Nutzen. Natur. Zum Umgang mit Rohstoffreichtum in Lateinamerika‹. Center for InterAmerican Studies (CIAS) an der Universität Bielefeld: Bielefeld
No Comments