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Wie werden wir in Zukunft satt? Ernährungssouveränität als Philosophie, Bewegung und Praktik

Hungerkrisen – Insektenburger – Monsanto – Solidarische Landwirtschaft. Wie sieht die Zukunft unserer Ernährung aus? Wie werden wir alle (gleich) satt? Und wie können wir Einfluss auf unsere Ernährungspolitik nehmen? Das Konzept der Ernährungssouveränität gibt mehrere mögliche Antworten.

Global Player gegen Hunger?

September 2021 – New York. Der UN Food System Summit findet statt mit dem Ziel das globale Ernährungssystem zu erneuen. Ziel Nummer 2 der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN dabei: Zero Hunger. Auch die Agrarindustrie ist bei dem Gipfel gut vertreten. Das Ziel der UN, globale Ernährungssicherheit zu erlangen, schließt eben multinationale Unternehmen nicht aus, sondern sogar ein: Heutzutage vereinen im Bereich der Landwirtschaft beispielsweise zwei Firmen mehr als 50 % des globalen Saatgutmarkts auf sich. Bei Agrochemikalien (Herbiziden, Pestiziden etc.) bestimmen drei Konzerne – Bayer, Syngenta, Corteva – drei Viertel der Industrie.

Ernährungssouveränität als Graswurzel-Konzept

Oktober 2021. Das Bündnis La Via Campesina, eine transnationale Bewegung von Akteur*innen der Klein- und Landbäuer*innenbewegung, feiert die 25-jährige kollektive Konstruktion des Konzepts der Ernährungssouveränität. 1996 hatte sie es erstmalig als Gegenentwurf zum Konzept der Ernährungssicherheit beim Welternährungsgipfel der FAO (Food and Agriculture Organization der UN) vorgestellt.

Im Gegensatz zum Konzept der Ernährungssicherheit stellt es die Erzeuger*innen und Konsument*innen und ihr Recht, die eigenen Ernährungssysteme zu bestimmen, in den Vordergrund und beleuchtet die sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen: Wer produziert? Für wen? Warum? Unter welchen Bedingungen?

(…) Food sovereignty is the right of peoples to healthy and culturally appropriate food produced through ecologically sound and sustainable methods, and their right to define their own food and agriculture systems. It puts those who produce, distribute and consume food at the heart of food systems and policies rather than the demands of markets and corporations (…)”

Nyéléni 2007

Nicht erst die COVID-19 Pandemie hat gezeigt, dass es Sinn macht, lokale Produktions-, Handels- und Entscheidungsstrukturen zu stärken. Bereits zu Zeiten der Grünen Revolution gab es nach globaler anfänglicher Begeisterung viel Kritik an den technologischen und industrialisierten Ansätzen, die auf Anbau in Monokulturen, Gentechnik und den großflächigen Einsatz von Pesti- und Herbiziden setzten. Es entstanden und entstehen enorme Abhängigkeitsverhältnisse zu Konzernen, die Artenvielfalt und der Sortenreichtum vermindern sich und die Gesundheit der Menschen nimmt Schaden.

Ernährungssouveränität in der Praxis

Doch wie sieht gelebte Ernährungssouveränität aus? 6 Praxisbeispiele:

  1. Ein Beispiel sind Ernährungsräte, wie der 1993 gegründete CONSEA in Brasilien und die im englischsprachigen Raum schon seit den 1980er Jahren initiierten „Food Policy Councils“. Sie sind ein Instrument, um auf lokaler Ebene durch die Beteiligung von verschiedenen Akteur*innen die lokalen Ernährungssysteme zukunftsfähig zu gestalten. Mittlerweile gibt es auch in vielen deutschen Städten solche Räte.        
  2. Ein weitere Möglichkeit sind lokale und partizipative Zertifizierungs- und Garantiesysteme, die die Erzeuger*innen unabhängig von teuren Zertifizierungsunternehmen machen. Denn bestimmte Garantiesiegel sind für viele Kleinbäuer*innen unerschwinglich und stellen eine Hürde dar Zugang zum Markt zu erhalten.      
  3. Um Saatgut und indigenes Wissen darüber zu sammeln, zu multiplizieren und auszutauschen, bieten sich Saatgutbanken an. Durch sie kann die Sortenvielfalt erhalten bleiben und Abhängigkeiten von riesigen Saatgutkonzernen entstehen erst gar nicht.         
  4. Die Etablierung von solidarischen Landwirtschaften (SoLaWis) oder community supported agriculture (CSA) basiert auf einer gemeinschaftlichen Finanzierung von Land, Geräten, Lohn etc. und einem Mitspracherecht von Mitgliedern über Ausgaben, Anbau etc. Die Menschen, die diese jährlichen Kosten tragen, erhalten im Gegenzug anteilig etwas von der Ernte.
  5. Elementarer Bestandteil von dem Anspruch der Ernährungssouveränität ist auch die Verankerung in Gesetzen und politischen Maßnahmen. Vorreiter ist an dieser Stelle bspw. Bolivien, wo 2009 in der neuen Verfassung der Import, die Produktion und der Handel von gentechnisch modifizierten Produkten und anderen giftigen Elementen verboten wurde. 2012 wurde ein Gesetz erlassen, das Ideen von nachhaltigem Konsum, Ernährungssouveränität etc. mit indigenem Wissen und Konzepten wie Buen Vivir verbindet.

Schließlich sind es öffentlichkeitswirksame Formate – wie Demonstrationen, Pressearbeit und Boykotte, bspw. die von La Via Campesina ausgehenden Proteste im Jahr 2003. Dort riefen Demonstrierende „WTO out of agriculture“ und kritisierten, dass Institutionen wie die Welthandelsorganisaton, die Weltbank oder der IMF die Probleme der Welternährung nicht lösen, sondern sogar verschärfen. Oder wieder zurück nach New York zum UN Food Systems Summit 2021: La Via Campesina und andere Vertretungen von Kleinbäuer*innen, Fischer*innen etc. boykottieren die Veranstaltung. Sie veranstalten einen Gegengipfel – ihr Statement:

We will not remain silent in the face of this flagrant attempt to decide our lives and livelihoods without our participation (…) We – small-scale food producers and Indigenous people – will reaffirm our solidarity and food sovereignty principles that are rooted in our territories and our way of life.

https://viacampesina.org/en/un-food-systems-summit-here-is-why-we-are-boycotting-it/

Was diese Praxisbeispiele und La Via Campesina als Bewegung uns deutlich zeigen:

Ernährungssouveränität wird nicht mit dem bewussten Konsum von möglichst fair gehandelten Produkten erreicht. Um nachhaltig kleinbäuerliche Strukturen zu stärken und damit die Welternährung sicherzustellen, braucht es den Protest gegen die Agrarlobby, die politische Organisation und Wertschätzung von Kleinbäuer*innen und ihren funktionierenden Praktiken und Netzwerken aus aller Welt.

Globalize the Struggle, globalize Hope!


von Paula Sasse

Beitragsbild: CC BY 2.0 von Jess Hurd/reportdigital.co.uk auf Flickr

Wer noch mehr über Ernährungssouveränität lesen will, kann das z. B. hier tun.

1 Comment
  • Jana Werner
    Posted at 22:55h, 31 Januar Antworten

    Vielen Dank, liebe Paula Sasse! Selten so einen aufschlussreichen, treffenden und vor allem auch mutmachenden Beitrag über das Konzept der Ernährungssouveränität gelesen. Ich beschäftige mich gerade wieder viel mit Gentechnik (die Neuen Gentechniken, wo nur innerhalb der Pflanze umgebaut und kein artfremdes Material eingebracht wird, sollen nach dem Willen der EU-Kommission vom strengen Gentechnikrecht ausgenommen werden). Ich bin positiv überrascht, wie viele Argumente (abgesehen vom Abstellen auf das Thema Labor- oder Risikotechnologie) hier dein stecken!
    Ja, lasst uns gemeinsam Saatgut retten, kollektiv (land)wirtschaften und nicht nur im Januar zur Wir-haben-es-satt Demo, lautstark protestieren.

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