27 Aug. 2025 Können internationale Gerichte eine gerechte Weltordnung schützen?
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Präsidentschaft Donald Trumps wird häufig vom drohenden Untergang der regelbasierten Weltordnung berichtet. Aber was genau ist das eigentlich und von wem wird sie überwacht?
Was bedeutet regelbasierte Weltordnung?
Unter dem Begriff der regelbasierten internationalen Ordnung versteht man Regeln für die Interaktion zwischen Akteurinnen und Akteuren im internationalen Raum. Weil alle Staaten für sich souverän sind und gleichberechtigt nebeneinander existieren, herrscht im internationalen Raum eine Anarchie. Kein Staat kann einem anderen Befehle erteilen und kein Staat wäre an solche Befehle gebunden. Um dieses Zusammenleben der Staaten möglichst gut und vor allem möglichst friedlich zu organisieren, haben die Staaten gemeinsame Regeln festgelegt. Zusammengenommen bilden sie das Völkerrecht.
Wer kümmert sich aber darum, dass sich die Staaten an diese Regeln auch halten? Zum Beispiel gibt es da den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN, UN), der die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit trägt. Im Zweifelsfall kann der UN-Sicherheitsrat deshalb auch Maßnahmen anordnen. Gleichzeitig ist auch er an die Normen der UN-Charta gebunden, die ihrerseits wieder Völkerrecht darstellt.
Der UN-Sicherheitsrat hat also die Aufgabe, darauf zu achten, dass die internationale Sicherheit und der Frieden nicht gefährdet werden, und kann dazu Maßnahmen erlassen, ist aber dabei ein ausführendes Organ. Gleichzeitig gibt es auch rechtsprechende Organe im internationalen Raum. Zwei Beispiele der internationalen Gerichtsbarkeit sind der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Daneben gibt es noch einige andere, aber diese beiden nehmen für den Schutz der internationalen Ordnung eine besondere Bedeutung ein.
Der internationale Gerichtshof
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wurde 1946 geschaffen und ist das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Seine Existenz ist verankert in der Charta der Vereinten Nationen. Die Verfahren vor dem IGH können nur von Staaten gegen andere Staaten eingeleitet werden. Dabei müssen alle beteiligten Staaten die Zuständigkeit des IGH anerkannt haben, beispielsweise als Vertragsstaat des IGH-Statuts oder durch entsprechende Erklärungen. Alle Mitgliedsstaaten der UN sind dadurch befugt, vor dem IGH Prozesse zu führen. Streitgegenstand vor dem IGH sind Fragen des Völkerrechtes.
Beispielsweise hat Nicaragua ein Verfahren gegen Deutschland vor dem IGH eingeleitet. Nicaragua beschuldigt Deutschland, in Bezug auf die Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen gegen seine Verpflichtung im Rahmen der UN-Genozidkonvention zu verstoßen, weil Deutschland einen Genozid im Gazastreifen nicht verhindere und Israel unter anderem durch Waffenlieferungen im Genozid noch unterstütze.
Die UN-Genozidkonvention, die Deutschland unterschrieben und ratifiziert hat und an die Deutschland somit gebunden ist, ist nur anwendbar, wenn tatsächlich ein Genozid vorliegt. In Bezug auf Israels Handeln im Gazastreifen ist diese Frage höchst umstritten und aktuell nicht abschließend geklärt. In Bezug auf die Verhandlungen vor dem IGH hat Nicaragua bis zum 21. Juli 2025 Zeit zur Einreichung aller notwendigen Unterlagen und Deutschland ein weiteres Jahr Zeit für seine Reaktion.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist also für völkerrechtliche Streitigkeiten zwischen Staaten zuständig. Aber wie können Individuen für Verstöße gegen Völkerrecht verantwortlich gemacht werden? Eine Möglichkeit ist der Internationale Strafgerichtshof.
Der Internationale Strafgerichtshof
Der Internationale Strafgerichtshof hat seinen Sitz auch in Den Haag und befasst sich mit schweren Straftaten mit Bedeutung für die internationale Gemeinschaft. In die Zuständigkeit des IStGH fallen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Dafür muss ein Staat die Zuständigkeit des IStGH annehmen und selbst nicht willens oder fähig sein, die betreffende Straftat selbständig zu ahnden.
In den Schlagzeilen war in der letzten Zeit vor allem der Haftbefehl des IStGH gegen Israels Premierminister Benjamin Netanyahu aufgrund des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Bezug auf Palästina. Israel argumentierte daraufhin, der IStGH habe keine Zuständigkeit über das Gebiet Palästinas und über israelische Staatsangehörige. Beides wurde vom IStGH abgewiesen, weil Palästina 2015 eine Erklärung abgegeben hatte, in der es die Zuständigkeit des IStGH akzeptiert. Ein internationaler Haftbefehl verpflichtet alle Vertragsstaaten, darunter auch Deutschland, die Gesuchten festzunehmen und in den Gewahrsam des IStGH zu übergeben. Wenn Individuen also schwere internationale Straftaten begehen, können sie dafür vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden.
Die Umsetzung internationaler Gerichtsurteile
Der IGH und der IStGH beschäftigen sich also beide mit Verstößen gegen internationales Recht. Gleichzeitig haben sie selbst keine Mittel, um ihre Urteile durchzusetzen, sondern sind dafür auf andere Staaten angewiesen. Wenn sich ein Staat beispielsweise weigern sollte, ein Urteil des IGH zu beachten, könnte sich der IGH immerhin noch an den UN-Sicherheitsrat wenden. Der wiederum könnte Maßnahmen erlassen, um das Urteil durchzusetzen, benötigt aber dafür die Zustimmung seiner Mitglieder. Besonders die ständigen Mitglieder USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China können eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrats durch ihr Veto leicht blockieren.
Auch die Umsetzung der Urteile des IStGHs und vor allem die Durchsetzung internationaler Haftbefehle sind oft sehr schwierig. Das wird am Beispiel des Haftbefehls gegen Benjamin Netanjahu deutlich. Alle Vertragsstaaten sind völkerrechtlich verpflichtet, den israelischen Premierminister festzunehmen und an den IStGH zu übergeben, sobald Netanjahu deren Staatsgebiet betritt. Israel ist selbst kein Vertragsstaat des IStGH, Netanjahu muss also auf israelischem Gebiet keine Verhaftung befürchten. Trotzdem sollte der Haftbefehl Netanjahus internationale Reisefreiheit sehr stark eingeschränkt haben. Allerdings hat Netanjahu seit dem Haftbefehl vom 21. November 2024 drei Auslandsreisen unternommen: im April und Juli 2025 in die USA und im April 2025 nach Ungarn. Warum wurde er dort nicht festgenommen?
Die Durchsetzung des Haftbefehls gegen Netanjahu
Netanjahu und die USA
Für die USA lautet die simple Antwort: weil die USA kein Vertragsstaat des IStGH sind. Wer kein Vertragsstaat ist, muss sich auch nicht an den Haftbefehl halten. Aus Bedenken vor einer Unterwanderung ihres nationalen Rechts und der strafrechtlichen Verfolgung amerikanischer Staatsbürgerinnen und -bürger aus politischen Gründen zogen die USA ihre Unterschrift unter dem sogenannten Römischen Statut unter Präsident George W. Bush zurück. Diese Sorgen sind unbegründet: Es ist ein unpolitisches Gericht und wird erst tätig, wenn die nationale Justiz nicht willens oder fähig ist, eine bestimmte Straftat ernsthaft zu verfolgen.
Aktuell versuchen die USA, aktiv Druck auf den IStGH auszuüben. Als Reaktion auf Entscheidungen wie unter anderem den Haftbefehl gegen Netanjahu belegten die USA vier Richterinnen des IStGH mit Sanktionen. Die Handlungen des IStGH seien grundlos, unrechtmäßig und stellten einen Machtmissbrauch dar, so Präsident Donald Trump.
Netanjahu und Ungarn
Ungarn allerdings ist Vertragsstaat und hätte den Haftbefehl also vollstrecken müssen: Sie haben das Römische Statut im Jahr 2001 ratifiziert. Die ungarische Regierung hatte den Haftbefehl kritisiert, Netanjahu nach Ungarn eingeladen sowie ihm versichert, man werde den Haftbefehl ignorieren. Ungarn selbst argumentiert, man habe nie offiziell verkündet, dass der Beschluss zur Ratifizierung des IStGH-Statuts in Kraft getreten sei – deshalb sei man auch nicht an IStGH-Entscheidungen gebunden.
Wie es Ungarn mit Recht und Gesetz hält, wird auch in der EU schon lange kritisch beobachtet. 2024 attestierte eine Untersuchung der EU-Kommission dem Staat Verstöße in allen großen Bereichen der Rechtsstaatlichkeit, unter anderem bei Justizsystem, Pressefreiheit und Gewaltenteilung. Ungarn selbst hat im Juni 2025 seinen Ausstieg aus dem IStGH-Statut erklärt, der zum 02. Juni 2026 effektiv wird. Bis dahin ist Ungarn noch an das Römische Statut gebunden, also auch während des vergangenen Besuchs Netanjahus. Konsequenzen für Ungarn nach der Missachtung des Haftbefehls sind nicht ersichtlich.
Netanjahu und Deutschland
Wie verhält sich Deutschland? Friedrich Merz hat Ende Februar 2025 im Wahlkampf einen Besuch Netanjahus in Deutschland in Aussicht gestellt. Nach eigener Aussage versicherte er Netanjahu telefonisch, dass man den Haftbefehl nicht vollstrecken werde – einen Haftbefehl wegen Verdacht auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Merz argumentierte, es sei schlecht vorstellbar, dass ein israelischer Ministerpräsident Deutschland nicht besuchen könne. Dabei muss Merz als Jurist klar gewesen sein, dass ein Besuch Netanjahus in Deutschland ohne Vollstreckung des Haftbefehls einen eindeutigen Bruch des Völkerrechts darstellen würde. Das Auswärtige Amt betonte in einer Pressekonferenz im Mai 2025, es sei aktuell keine Reise geplant und deshalb könne man in der Sache keine Entscheidung verkünden.
Die Umsetzung des Haftbefehls bleibt also schwierig: Solange Netanjahu in Israel bleibt, wird er nicht verhaftet werden. Und wenn er doch eine Auslandsreise unternimmt, wird er nur in Staaten reisen, die den IStGH nicht anerkennen – oder ihm glaubhaft versichern, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt werden wird.
Die US-amerikanischen Sanktionen diffamieren die Legitimität der Handlungen und Entscheidungen des IStGH. Dass Ungarn die Möglichkeit zur Verhaftung gehabt hätte und sie nicht genutzt hat, schwächt das Vertrauen in die Wirksamkeit der internationalen Gerichtsbarkeit weiter und könnte womöglich Nachahmungen inspirieren. Dass gleichzeitig Deutschlands amtierender Bundeskanzler damit liebäugelt, einen internationalen Haftbefehl des IStGH womöglich nicht vollstrecken zu wollen, schwächt zusammen mit der internationalen Justiz auch die regelbasierte Weltordnung. Hätte Deutschland die regelbasierte Weltordnung aktiv unterstützen und vor gegenwirkenden Kräften schützen wollen, hätte die Vollstreckung des Haftbefehls in keiner Weise angezweifelt werden dürfen.
Fazit
Internationale Gerichte sind als Judikative zentrale Bestandteile einer regelbasierten internationalen Ordnung. Sie bleiben aber auf die Unterstützung und Kooperation der internationalen Gemeinschaft angewiesen: Diffamierungen, Nichtbeachtung und fehleranfällige bis nicht vorhandene Durchsetzungsmechanismen behindern ihre Wirksamkeit. Gerade deshalb findet sich die Stärkung internationaler Institutionen, insbesondere der nationalen und internationalen Justiz, als SDG 16 in den Zielen der UN für eine nachhaltige Entwicklung.
-Sandra-
Beitragsbild: Peace Palace in Hague, Netherlands, von Ludvig14 auf Wikimedia Commons, CC-BY-SA-4.0
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