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Was ist Gerechtigkeit und wo hört sie auf?

Soziale Gerechtigkeit ist das grundlegende Prinzip für ein friedliches Miteinander. Wenn wir uns für Geschlechtergleichheit einsetzen oder für die Rechte von indigenen Völkern und Migrant*innen, berufen wir uns auf soziale Gerechtigkeit. Und wir bestärken sie, indem wir Hürden für Menschen beseitigen, die ihnen gestellt sind aufgrund von Gender, Alter, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Kultur oder Beeinträchtigung.

Zusammenhang von (Un-)Gleichheit und (Un-)Gerechtigkeit

Heute ist Welttag der sozialen Gerechtigkeit und das diesjährige Motto lautet „Closing the Inequalities Gap to Achieve Social Justice”. Auf Deutsch: Die Lücke der Ungleichheiten schließen, um soziale Gerechtigkeit zu erlangen.

Soziale Ungleichheiten gab es schon immer. Allerdings haben moderne Gesellschaften den Anspruch über ein legitimes Gefüge sozialer Ungleichheit zu verfügen. Soziale Konflikte einerseits und gesellschaftlicher Zusammenhalt andererseits hängen entscheidend davon ab, inwieweit die Menschen das Gefüge sozialer Ungleichheit als gerecht ansehen.

Was ist gerecht?

Das Problem mit Begriffen wie „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“ u.ä. ist, dass sie keine objektive, messbare Größe darstellen. Was gerecht ist und was nicht, liegt stattdessen im Auge des Betrachters und hängt stark von gesellschaftlichen Normen und individuellen Werten einer*s jeden ab. Ist also die erbrachte Leistung entscheidend oder der Bedarf? Zu unterscheiden sind vier Arten von sozialer Gerechtigkeit, die sich teilweise widersprechen, teilweise bedingen.

Leistung als Gerechtigkeitskriterium

Leistungsgerechtigkeit ist dann erreicht, wenn eine Belohnung dem persönlichen Beitrag oder Aufwand für die jeweilige Gesellschaft entspricht. Ungleiche Belohnungen werden also gerechtfertigt durch ungleiche Bemühungen und ungleiche Effektivität. Dieser Ansatz macht den Menschen für die eigenen Lebensumstände verantwortlich und soll motivieren sich für bessere Lebensbedingungen mehr anzustrengen.

(Start-)Chancengerechtigkeit soll gleiche Chancen im Wettbewerb sicherstellen. Der Begriff bezieht sich also auf die Bedingungen des Wettbewerbs. Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass Menschen aus unterschiedlichen Hintergründen ungleiche Chancen zur Leistungsfähigkeit haben. Erschwerter Zugang zu Führungspositionen für Frauen wird hier oft genannt sowie Zugang zu Bildung für Kinder aus immigrierten oder bildungsfernen Familien. Auch hier werden ungleiche Ergebnisse der Verteilung in Kauf genommen mit dem Verweis gleiche Chancen für Leistung hergestellt zu haben.

Für beide Ansätze gilt: Wer Leistungsgerechtigkeit und/oder Chancengerechtigkeit fordert, befürwortet die Verteilung von ungleich hohen Belohnungen, also soziale Ungleichheit.

Gerechtigkeitsmessung nach Bedarf

Bedarfsgerechtigkeit bedeutet die eigenen Grundbedürfnisse befriedigen zu können, unabhängig davon, ob die jeweilige Person in der Lage ist, Gegenleistungen zu erbringen. Hier steht also der Mensch im Mittelpunkt, der nicht (mehr) leistungsfähig genug ist seinen Mindestbedarf zu decken. Als Beispiel sind Alte, Kinder und Kranke zu nennen. Sie sollen ihren Bedarf decken können, obwohl sie selbst dafür aktuell nicht in der Lage sind.

Das Konzept der egalitären Gerechtigkeit fordert eine nahezu gleiche Verteilung von Lasten und Gütern, unabhängig von der individuellen Situation. Insbesondere das Gesundheitssystem wird vor diesem Hintergrund oft kritisiert, da die verschiedenen Kassen unterschiedliche Behandlungen ermöglichen.

Wer sich also für Gleichheitsgerechtigkeit oder Bedarfsgerechtigkeit ausspricht, sieht gleich oder ähnlich hohe Verteilung als Kern der Gerechtigkeit.

Soziale Gerechtigkeit in Deutschland

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist von einem neoliberalen Gerechtigkeitsbild geprägt, d.h. sie messen Gerechtigkeit an Leistung. Verschiedene Studien belegen allerdings, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, während die Mittelschicht zunehmend wegfällt. Die verbreitete Vorstellung von Gerechtigkeit, die das Fundament unseres Sozialstaates bildet, scheint also zu verstärkter Ungleichheit zu führen. An dieser Stelle möchte ich nochmal an das Motto des Welttags für soziale Gerechtigkeit 2020 erinnern: Die Lücke der Ungleichheiten schließen, um soziale Gerechtigkeit zu erlangen. Für mich zumindest ein klares Plädoyer für eine bessere Verteilung von Einkommen und Gütern. Und das kann nur unabhängig von Leistung geschehen.

Ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff

Gerechtigkeit kann keine Grenzen achten, weder auf sozialer noch geographischer oder sonstiger Ebene. Sie sollte niemals unterscheiden zwischen Altersgruppen, Generationen oder Staaten. In unserer globalisierten Welt werden Forderungen nach globaler Gerechtigkeit laut, die sich ebenso unterscheiden lassen wie die oben ausgeführten Formen sozialer Gerechtigkeit. Und auch das Wort Generationengerechtigkeit ist spätestens seit dem Erstarken der Klimabewegung in aller Munde. Diese beiden Begriffe bilden keine neuen Arten von Gerechtigkeit, sondern zeigen vielmehr, dass sich unser Maßstab für Gerechtigkeit verschoben hat. Unser Blickfeld hat sich ausgeweitet auf zukünftige Generationen und Menschen aus fernen Orten, die uns vorher einfach nicht so im Bewusstsein waren.

Wie auch immer jede*r Einzelne den Gerechtigkeitsbegriff füllen möchte, die Debatte darüber hat noch lange kein Ende gefunden. Vielmehr scheint sie sich auszuweiten und neue Aspekte miteinzuschließen. Vielleicht können uns große Denker der Geschichte einen Denkanstoß geben. Der Sozialphilosoph John Rawls beispielsweise erklärte in seinem Buch „Theory of Justice“, dass für ihn eine Gesellschaft nur dann gerecht sei, wenn die für sie geltenden Regeln für alle akzeptabel seien und die Mehrheit sich nicht auf Kosten der Schwächeren bereichern könne.

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